Man hört die Musik, nicht die Strukturen
Pierre Boulez ist zum Klassiker geworden. Aber er ist „ein Klassiker, der noch stört“, sagt Pianist Pierre-Laurent Aimard.
Als Hans Landesmann, neu installiert als Konzertreferent der Salzburger Festspiele, 1992 einen zeitgenössischen Musikschwerpunkt installierte und eine große Werkschau von Pierre Boulez ausrichtete, war dies ein schwer kalkulierbares Risiko. Wenn heute in der Reihe „Salzburg contemporary“aus Anlass des 90. Geburtstags von Boulez dessen Werk – darunter vieles, was damals noch nicht erklungen ist oder nicht erklingen konnte, weil es noch nicht komponiert war – erneut in den Fokus genommen wird, so kann man von einem grundlegend gewachseneren Verständnis ausgehen. Pierre Boulez ist gewissermaßen vom „Avantgardisten“zum „Klassiker“geworden.
Wie aber kann man ihn trotzdem besser kennenlernen und verstehen? Um diese Frage ging es auch bei einem „Terrassentalk“der Salzburger Festspiele am Freitag mit den Pianisten Pierre-Laurent Aimard und Tamara Stefanovich, die heute, Samstag, um 19.30 Uhr das gesamte Klavierwerk von Boulez aufführen: das „Gesellenstück“der „12 Notations“von 1946, die drei Klaviersonaten aus den 1950er-Jahren, das Livre II der „Structures“bis zu „Une page d’éphéméride (2005).
Man tue gut daran, Boulez als französischen Komponisten aufzufassen, der mit der speziellen Klanglichkeit der Impressionisten, besonders Debussy, und durch die Prägungen seines Lehrers Olivier Messiaen und seiner einzigartigen Farbenpalette aufgewachsen ist. Auf der anderen Seite waren die Wiener Schule und Gustav Mahler – auch wenn Boulez ihn erst später als Dirigent entdeckte – entscheidend, um Strukturalismus und Sinnlichkeit, Ordnung und Freiheit als Grundpfeiler des eigenen Komponierens zu etablieren.
Messiaen sagte über seinen Schüler Boulez einmal, dieser habe den Klang am Klavier neu erfunden. Um Klanglichkeit sollte es also gehen, wenn man die komplizierten Noten in die Interpretation übersetzt. Boulez liebe den virtuosen Interpreten, und dementsprechend schreibe er virtuose Musik, hieß es in dem Gespräch, die aber stets von äußerst präzisen, klaren Gedanken ausgehe. Raum, Form, die Beziehung zwischen Wort und Klang: Das seien, so Aimard, drei Grundthemen für Boulez. Seine Musik müsse „atmen, emotional und energetisch“.
Manche Werke von Boulez sind in Form und Inhalt abgeschlossen, manche werden aus bestimmten „Zellen“, wie in einem „Wucherungsprozess“, langfristig weiterentwickelt. Im Prinzip, so sagen beide Pianisten, stellen sich für einen Musiker die grundlegenden Parameter von Spiel und Interpretation wie in klassischen Werken auch bei Boulez, nur das Material sei eben anders. Über allen Strukturen aber „hört man immer die Musik“, bekräftigt Aimard. Und eben weil sie so vielschichtig sei, könne sie heute stärker denn je „strahlen“.
Ein Tipp: Wer die Salzburger Konzerte bis 21. August erleben will, sollte vielleicht als Einstiegshilfe die „Notations“hören und sie sich vom Komponisten wunderbar einfach und selbstverständlich erklären lassen auf der beispielgebenden Website