Lesen und Klingen vermählen
Wie gut sich eine Bibliothek zum Hören eignet und was zwischen Musikern und Publikum überspringen kann, ist sechs Wochen lang im Waldviertel zu erleben.
In eine gute Bibliothek passt ein Klavier. Diese Erkenntnis des britischen Philosophen Isaiah Berlin wird ab heute, Samstag, in großem Stil im Waldviertel umgesetzt. Dort wird die Bibliothek des Stiftes Altenburg mit Orchester bespielt. In den kommenden Wochen – bis 20. September – werden beim nun beginnenden Festival Allegro Vivo auch andere geschichtsträchtige Räume, die sich mit Musik gut vertragen, mit neuem Klangleben erfüllt.
Das Waldviertel sei die europäische Landschaft mit der größten Dichte an Burgen, Schlössern und Stiften, erläutert der Künstlerische Leiter des Festivals, Bijan KhademMissagh. Er hat Allegro Vivo 1979 gegründet, damals noch als Kammermusikfestival in Horn. Mittlerweile ist Allegro Vivo ein musikalisches Netzwerk für rund 30 der über diese gebirgige Landschaft aus Graniten und Gneisen verstreuten Orte geworden: Konzertiert wird im Kunsthaus Horn, im Festsaal von Stift Zwettl, im Marmorsaal von Stift Geras, im Wappensaal von Schloss Ottenstein und in Schlosshof von Weitra, ebenso in der Basilika Maria Dreieichen, in der Pfarrkirche in Altpölla und in der Gertrudskirche in Gars unter Glasfenstern aus dem 13. Jahrhundert. Auch im Psychosomatischen Zentrum in Eggenburg wird vor Publikum musiziert. An solchen Spielorten wird deutlich, wie Lesen und Hören, Wort und Klang, Formulieren und Musizieren, Andacht und Konzentration sowie Musik und Heilung aus demselben Urgrund schöpfen und dorthin wieder einsickern.
Das Philosophieren mutet Bijan Khadem-Missagh den Besuchern zu, indem er jedes Jahr das Konzertprogramm unter zwei Themen stellt. Das eine davon ist heuer die „Inspiration“. Inspirieren heiße mit Seele und Geist erfüllen, sagt Bijan Khadem-Missagh. Und Musik sei „in Form gegossene Inspiration“. Damit eine Inspiration überspringe, sei eine Wechselwirkung erforderlich – sei es zwischen Musizierenden und Publikum oder zwischen den Musikern. Daher sei das gemeinsame Musizieren so essenziell; es sei so anregend wie ein Gedankenaustausch unter Freunden. In einem inspirierenden Zusammenspielen werde jeder Musiker zum Teil eines größeren Ganzen, sagt Bijan Khadem-Missagh. Intensiv zu erleben sei dies in der Kammermusik. Zudem sei das lateinische Wort „inspirare“(hineinblasen, einhauchen) verwandt mit dem deutschen Atmen. Und in diesem stecke „Odem“ebenso wie „Adam“– in der Bedeutung des Lehmpatzens, in den Leben eingehaucht sei. Bijan Khadem-Missagh folgert: „Der Mensch ist nur ein Mensch, wenn er inspiriert ist, sonst ist er Materie.“
Im Eröffnungskonzert mit dem Titel „Inspiration“wird auch die zweite über das heurige Allegro-Vivo-Programm gelegte Klammer deutlich: Frankreich.
Freilich steht da jener Niederösterreicher im Vordergrund, der in Frankreich Furore gemacht hat und an den heute noch der Name eines Pariser Konzertsaals erinnert: Ignaz Pleyel. Im Eröffnungskonzert, morgen, Sonntag, ist dessen Symphonie in C-Dur zu hören. Zudem wird in der Stiftsbibliothek in Altenburg – vor den großen französischen Romantikern Jules Massenet und Camille Saint-Saëns – auch eine Sinfonietta von Albert Roussel gespielt, dem nach Ansicht von Bijan Khadem-Missagh „vielleicht bedeu- tendsten Franzosen neben Debussy und Ravel“. An diesem Werk aus 1934 zeige sich eine Rückbesinnung auf den Klassizismus ebenso wie „die Zerrissenheit des 20. Jahrhunderts“, also die Empfindungen eines Menschen, der im Ersten Weltkrieg „den Anfang der Zerstörung Europas“gesehen habe.
Während des Festivals wird nicht nur Musik von Franzosen, sondern auch in Frankreich komponierte Musik vorgestellt – wie Wolfgang Amadeus Mozarts Pariser Sympho- nie oder dessen Ballettmusik „Les petits riens“. Zudem sollen musikalische Einflüsse aus Frankreich dort und da deutlich werden.
In den nächsten Wochen wird das Waldviertel auch deshalb zu dem, was Bijan Khadem-Missagh als „europäisches Zentrum für Kammermusik“bezeichnet, weil rund 600 Musiker dort wirken und weil neben den 55 Konzerten an dreißig Orten auch eine musikalische Sommerakademie stattfindet, mit drei Säulen: Meisterklassen, Jugendkurse sowie Eltern-Kind-Kurse. Denn die oberste Verantwortung für die Musikerziehung obliege den Eltern, sagt der Künstlerische Leiter. Daher solle in den Kursen eine musische Wechselwirkung zwischen Eltern und Kindern angeregt werden.
Festival: Allegro Vivo, Waldviertel, Konzerte bis 20. September. Heute, Samstag, 19 Uhr, Prélude; morgen, Sonntag, 16 Uhr, Eröffnungskonzert „Inspiration“, Bibliothek Stift Altenburg.
„Jedes Konzert ist eine Inspiration.“ B. Khadem-Missagh Künstlerischer Leiter