Der Mensch von heute verzettelt sich
Mit Individualisten wird es schwierig, Familie oder gar Gesellschaft zu formen.
Dieser Roman erzählt von Bewohnern der Großstadt, und wer kann schon behaupten, dass diese Spezies sich durch Ausgeglichenheit und Konzentration hervortäte? Zerrissenheit und Gespaltenheit, Unrast, Getriebenheit und die Vielfalt der Möglichkeiten formen Charaktere, die den Einzelnen gar nicht auf die Idee kommen lassen, dass er sein Leben von einem festen Punkt aus organisieren könnte. Der Mensch von heute verzettelt sich. Er ist ungeduldig und unstet. Zusammen bilden alle diese verunsicherten Einzelnen eine nervöse Gesellschaft.
Vier Bücher hat Annika Reich, geboren 1973 in München, mittlerweile geschrieben, jetzt kommen wir nicht länger umhin, sie als eine der wichtigen Autorinnen ihrer Generation zu würdigen. Sie ist gebildet und klug und verfügt über eine angenehm unverkrampfte Art, ihr Wissen über die Menschen und unsere Zeit ins Erzählen einfließen zu lassen. Und wie geht sie das an?
Jedenfalls geht es nicht so fein säuberlich geordnet ab wie in einem Roman, der vergleichbar einem Staffellauf eine Hauptfigur über eine längere Strecke sein Schicksal erleben lässt, um später die Aufmerksamkeit einer anderen zukommen zu lassen. Im klassischen Roman gruppiert sich die Menge der anderen um diesen besonderen Einzelnen. Bei Annika Reich stellt sich eine größere Runde ein, und alle wollen gehört werden. Sie schenkt einer Figur die volle Aufmerksamkeit, dann widmet sie sich einer anderen, die vorige darf sich später wieder vordrängen. Jeder der verschiedenen Typen ist mit einem ausgeprägten Ich ausgestattet. Wir bekommen im Verlauf der Lektüre gut mit, wie sich unversehens Zusammenhänge einstellen, die sichtbar wer- den, weil sich unterschiedliche Bereiche des Lebens in einer Person kreuzen.
Nehmen wir Sira. Die junge Frau kommt aus Ägypten, war dabei, als der dortige Aufstand den Sturz Mubaraks bewirkte und bekam mit, wie Polizei, Militär und Schlägertrupps Autorität gegen jede Vernunft noch einmal sichern wollten. Ein politischer Roman? Gewiss, aber nicht nur. Sira lebt eigentlich in Deutschland, hat sich also in der beruhigten Zone eingerichtet. Unverständlich bleibt ihr die deutsche Mentalität, wenn sie Handlungen ihres Freundes Markus beurteilt. Dann „versteht sie diesen emotionalen Geiz nicht, den er ihr ständig als Vernunft verkaufte“. Eine ägyptischdeutsche Geschichte also, schon deshalb konfliktgeladen, weil Weltvorstellungen und Werte einander gegenüberstehen, die man nicht mit schnellem Kompromiss angleichen kann? Und was, wenn die Liebe dazwischenkommt, jener Vernunft abweisende Magnet zwischen Menschen? Davon weiß Siras Bruder Farid eine Leidensgeschichte zu erzählen. Ein Liebesroman? Gewiss und noch viel mehr.
Denn die Familie will in diesem Roman unbedingt mitreden. Welche Familie? Die ägyptische, die deutsche? Beide, und schon wird es kompliziert. Dem ägyptischen familiären Großraumdenken – alle gehören unter ein Dach und alle halten zusammen – steht die deutsche Kleinteiligkeit entgegen. Familien sind klein, selbst Paare trennen sich leicht. Der Zusammenhalt ist lose, viel Fremdheit baut sich auf zwischen den einzelnen Familienmitgliedern.
Das ist ein Fall für die Kunst. Wo sich prekäre Lagen einstellen, schafft sie es als Erste, Benennungsarbeit zu leisten. Ein junges Team, Sira gehört dazu, arbeitet an einem Theaterprojekt. Zuerst klappern die Leute ihre eigenen Familien ab und dokumentieren deutsche Familienzustände.
Aber was heißt schon deutsche Familie? Es macht einen Unterschied, ob eine westdeutsche gemeint ist oder eine, die die DDR noch erlebt hat. Das Material bildet die Basis für einen Theaterabend, der den unheimlichen Schichten des kollektiven Gedächtnisses nachspürt.
Mit Kunst hofft auch Ada das deutsche Herz zu ergründen. Sie beobachtet mit ihrer Kamera aus ihrem Fenster, wie sich Paare verhalten, die gemeinsam eine Therapie aufsuchen und wie verwandelt sie aus der Sitzung wieder herauskommen.
Das alles hat Platz in einem Roman, der nie überladen wirkt, weil er viel Luft zwischen den Szenen lässt und dem Leser eine Meinung nicht aufschwatzt.