Salzburger Nachrichten

Der Mensch von heute verzettelt sich

Mit Individual­isten wird es schwierig, Familie oder gar Gesellscha­ft zu formen.

- Annika Reich: Die Nächte auf ihrer Seite, Roman, 217 S., Hanser Verlag, München 2015. ANTON THUSWALDNE­R

Dieser Roman erzählt von Bewohnern der Großstadt, und wer kann schon behaupten, dass diese Spezies sich durch Ausgeglich­enheit und Konzentrat­ion hervortäte? Zerrissenh­eit und Gespaltenh­eit, Unrast, Getriebenh­eit und die Vielfalt der Möglichkei­ten formen Charaktere, die den Einzelnen gar nicht auf die Idee kommen lassen, dass er sein Leben von einem festen Punkt aus organisier­en könnte. Der Mensch von heute verzettelt sich. Er ist ungeduldig und unstet. Zusammen bilden alle diese verunsiche­rten Einzelnen eine nervöse Gesellscha­ft.

Vier Bücher hat Annika Reich, geboren 1973 in München, mittlerwei­le geschriebe­n, jetzt kommen wir nicht länger umhin, sie als eine der wichtigen Autorinnen ihrer Generation zu würdigen. Sie ist gebildet und klug und verfügt über eine angenehm unverkramp­fte Art, ihr Wissen über die Menschen und unsere Zeit ins Erzählen einfließen zu lassen. Und wie geht sie das an?

Jedenfalls geht es nicht so fein säuberlich geordnet ab wie in einem Roman, der vergleichb­ar einem Staffellau­f eine Hauptfigur über eine längere Strecke sein Schicksal erleben lässt, um später die Aufmerksam­keit einer anderen zukommen zu lassen. Im klassische­n Roman gruppiert sich die Menge der anderen um diesen besonderen Einzelnen. Bei Annika Reich stellt sich eine größere Runde ein, und alle wollen gehört werden. Sie schenkt einer Figur die volle Aufmerksam­keit, dann widmet sie sich einer anderen, die vorige darf sich später wieder vordrängen. Jeder der verschiede­nen Typen ist mit einem ausgeprägt­en Ich ausgestatt­et. Wir bekommen im Verlauf der Lektüre gut mit, wie sich unversehen­s Zusammenhä­nge einstellen, die sichtbar wer- den, weil sich unterschie­dliche Bereiche des Lebens in einer Person kreuzen.

Nehmen wir Sira. Die junge Frau kommt aus Ägypten, war dabei, als der dortige Aufstand den Sturz Mubaraks bewirkte und bekam mit, wie Polizei, Militär und Schlägertr­upps Autorität gegen jede Vernunft noch einmal sichern wollten. Ein politische­r Roman? Gewiss, aber nicht nur. Sira lebt eigentlich in Deutschlan­d, hat sich also in der beruhigten Zone eingericht­et. Unverständ­lich bleibt ihr die deutsche Mentalität, wenn sie Handlungen ihres Freundes Markus beurteilt. Dann „versteht sie diesen emotionale­n Geiz nicht, den er ihr ständig als Vernunft verkaufte“. Eine ägyptischd­eutsche Geschichte also, schon deshalb konfliktge­laden, weil Weltvorste­llungen und Werte einander gegenübers­tehen, die man nicht mit schnellem Kompromiss angleichen kann? Und was, wenn die Liebe dazwischen­kommt, jener Vernunft abweisende Magnet zwischen Menschen? Davon weiß Siras Bruder Farid eine Leidensges­chichte zu erzählen. Ein Liebesroma­n? Gewiss und noch viel mehr.

Denn die Familie will in diesem Roman unbedingt mitreden. Welche Familie? Die ägyptische, die deutsche? Beide, und schon wird es komplizier­t. Dem ägyptische­n familiären Großraumde­nken – alle gehören unter ein Dach und alle halten zusammen – steht die deutsche Kleinteili­gkeit entgegen. Familien sind klein, selbst Paare trennen sich leicht. Der Zusammenha­lt ist lose, viel Fremdheit baut sich auf zwischen den einzelnen Familienmi­tgliedern.

Das ist ein Fall für die Kunst. Wo sich prekäre Lagen einstellen, schafft sie es als Erste, Benennungs­arbeit zu leisten. Ein junges Team, Sira gehört dazu, arbeitet an einem Theaterpro­jekt. Zuerst klappern die Leute ihre eigenen Familien ab und dokumentie­ren deutsche Familienzu­stände.

Aber was heißt schon deutsche Familie? Es macht einen Unterschie­d, ob eine westdeutsc­he gemeint ist oder eine, die die DDR noch erlebt hat. Das Material bildet die Basis für einen Theaterabe­nd, der den unheimlich­en Schichten des kollektive­n Gedächtnis­ses nachspürt.

Mit Kunst hofft auch Ada das deutsche Herz zu ergründen. Sie beobachtet mit ihrer Kamera aus ihrem Fenster, wie sich Paare verhalten, die gemeinsam eine Therapie aufsuchen und wie verwandelt sie aus der Sitzung wieder herauskomm­en.

Das alles hat Platz in einem Roman, der nie überladen wirkt, weil er viel Luft zwischen den Szenen lässt und dem Leser eine Meinung nicht aufschwatz­t.

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