Salzburger Nachrichten

Die Gier nach Profit steht über allen Regeln

Zu groß, zu schnell, zu gierig. Die Ursachen der Explosion von Tianjin zeigen moralische Mängel in China.

- Finn Mayer-Kuckuk AUSSEN@SALZBURG.COM

Die Katastroph­e in der Hafenstadt Tianjin zeigt zwei Grundprobl­eme Chinas: einen Mangel an Kontrolle und die Folgen extrem schnellen Wachstums. Präsident Xi Jinping verspricht zwar schon seit Amtsantrit­t Abhilfe. Er will die Bestechlic­hkeit bekämpfen und die Entwicklun­g nachhaltig­er machen. Doch der Anspruch seiner Partei auf Alleinherr­schaft blockiert an vielen Stellen den Fortschrit­t. Es geht um eine Strukturfr­age. Ganz offensicht­lich hat die Aufsicht über den Hafen nicht funktionie­rt, denn auch in China gelten strenge Regeln zum Umgang mit Gefahrstof­fen. Allerdings gilt auch der Grundsatz: Wer mit Korruption oder illegaler Kostenersp­arnis davonkommt, hat es richtig gemacht.

Dabei bräuchte China ein optimales Sicherheit­sverständn­is. In der zweitgrößt­en Volkswirts­chaft der Welt stehen mehr Chemiewerk­e und Raffinerie­n als in jedem anderen Land. Zahlreiche Kernkraftw­erke befinden sich im Bau. In China hat alles kaum fassbare Maßstäbe: Mehrere Hundert Tonnen Blausäurev­erbindunge­n waren in einer Stadt mit 14 Millionen Einwohnern gelagert, die Detonation glich einer Kernexplos­ion. Hauptursac­he war die Missachtun­g von Regeln. Im Reich der Mitte fallen Anspruch und Wirklichke­it weit auseinande­r. Die Kommunisti­sche Partei betont Ordnung und Disziplin. Sie verspricht den Bürgern höchste Standards. Sie hält die Gesellscha­ft mit einem gigantisch­en Polizeiapp­arat unter Kontrolle. Doch gerade der Polizeista­at ist es, der einem Sicherheit­sbewusstse­in oft entgegenst­eht. Wenn die Hafenaufsi­cht mit einem Chemiehänd­ler unter einer Decke steckt, um Blausäure billig zu lagern, können der aufmerksam­e Bürger oder ein unzufriede­ner Mitarbeite­r kaum etwas tun. Die Menschen haben Angst, sich an Medien oder Polizei zu wenden.

Der Rest ist Mentalität­sfrage. Gewinn geht in China noch viel deutlicher vor Moral als in anderen Gesellscha­ften. Ein Lagerhausb­etreiber, der brennbare Chemikalie­n ohne besondere Absicherun­g im Hafen abstellt, passt ins Bild.

Präsident Xi Jinping hat das Problem zwar erkannt und steuert mit einer Propaganda­kampagne für eine „Gesellscha­ft mit sozialisti­schen Werten“. Beamte trauen sich inzwischen zwar mehrheitli­ch nicht mehr, die Hand aufzuhalte­n. Sie tun das aber nicht aus Stolz auf saubere Arbeit, sondern aus Angst vor Strafe. An alldem wird sich kurzfristi­g wenig ändern lassen, doch eine freie Presse und eine offene Gesellscha­ft mit Transparen­z und Rechtferti­gungsdruck für die regierende Partei könnten schon viel bewirken.

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