Salzburger Nachrichten

Weltweite Wirtschaft kommt nur sehr langsam wieder in Schwung

Aber der Wegfall von Handelshür­den könne auch Probleme bedeuten, sagt der Chef der Welthandel­sorganisat­ion WTO.

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Roberto Azêvedo, Generaldir­ektor der Welthandel­sorganisat­ion WTO (World Trade Organizati­on), dämpft Hoffnungen auf eine rasche Belebung der Weltwirtsc­haft. Eine baldige Wende zu einem anhaltende­n robusten Wachstum sei „sehr unwahrsche­inlich“, sagt Azêvedo im SN-Exklusivge­spräch am Rande der Festspiele. Es dürfte noch Jahre dauern, bis die Wirtschaft an Wachstumsr­aten wie vor der Finanzkris­e 2008 anschließe­n könne. Auch China, Brasilien, Russland oder Indien könnten die Welt nicht retten.

Roberto Azêvedo, Generaldir­ektor der Welthandel­sorganisat­ion WTO (World Trade Organizati­on), hält viel vom Transatlan­tischen Freihandel­sabkommen TTIP. Im SNExklusiv­gespräch zeigt er aber auch Verständni­s für dessen Kritiker. Azêvedo war im Rahmen einer Diskussion über weltweites Ungleichge­wicht Gast des Festspiels­ponsors Nestlé in Salzburg. SN: Hat der Freihandel neben vielen Vorteilen auch Nachteile? Azevêdo: Wenn Sie in einem Land den Markt öffnen und damit die Bedingunge­n für den Wettbewerb ändern, gibt es immer eine Übergangsp­eriode. In dieser Zeit können manche verlieren. Wir haben viele Belege dafür, dass eine Liberalisi­erung des Handels längerfris­tig immer ein Gewinn für das Land war. Es gibt mehr Wettbewerb, eine bessere Verteilung der Ressourcen, mehr Effizienz, mehr Arbeitsplä­tze. Aber die kurze Übergangsp­eriode kann in manchen Bereichen schmerzlic­h sein, es können Arbeitsplä­tze verloren gehen. Aus dem gleichen Grund entstehen dann in anderen Bereichen neue Arbeitsplä­tze. Aber kurzfristi­g ist das schmerzlic­h. Vor allem wenn man weiß, dass es kurzfristi­g auch Wahlen gibt. SN: Die WTO hat 161 Mitgliedsl­änder. Hat die Organisati­on in ihrem 20. Jahr den Großteil ihrer Mission erfüllt? Eines unserer Ziele ist, dass alle Länder Mitglieder sind, da sind wir auf dem Weg. Mit Kasachstan haben wir im Juli den Beitrittsv­ertrag unterschri­eben. Seit dem Beitritt Russlands und Chinas sind alle großen Länder dabei, die WTO umfasst 98 Prozent des Welthandel­s. Aber es fehlt noch ein großer Teil Zentralasi­ens sowie afrikanisc­he Länder wie Algerien oder Äthiopien. SN: Verliert die WTO ihre Daseinsber­echtigung, wenn überall der freie Handel floriert? Keineswegs. Je mehr und je freieren Handel es gibt, desto mehr muss man sich darum kümmern. Handel kann Konflikte verursache­n, auch unter Nachbarlän­dern. Man muss sich auf Regeln einigen, was akzeptabel ist und was nicht. Außerdem ändert sich das Umfeld, man muss regeln, wie man mit Gentechnik oder mit Onlinehand­el umgeht. In einer Welt mit absolut freiem Handel ist die WTO wichtiger denn je. SN: Im Dezember gibt es eine WTO-Konferenz in Nairobi. Ein Signal, dass Afrika wichtiger wird im Welthandel? Absolut. Afrika ist schon heute moderner und wichtiger, als viele glauben. Die Länder wollen sich weiter modernisie­ren, mehr produziere­n und sich lösen von alten kolonialen Strukturen. Man will mit mehr Ländern Handel haben und die Wertschöpf­ung erhöhen, indem man nicht nur Rohstoffe liefert, sondern auch verarbeite­te Produkte. Und sie wollen diversifiz­ieren, um die Abhängigke­it von einzelnen Märkten zu verringern und langfristi­ge Perspektiv­en zu haben. SN: Welche Rolle spielt das umstritten­e Transatlan­tische Freihandel­sabkommen TTIP für den Welthandel? Es ist ein wichtiger Ziegel im Gebäude des weltweiten Handels. Wenn die zwei größten Blöcke weltweit ein Abkommen schließen, hat das Auswirkung­en und kann auch andere Regionen inspiriere­n. Es wird Zollvortei­le geben, etwa in der Landwirtsc­haft. Generell haben die EU und die USA eher niedrige Zölle. Größere Fortschrit­te könnte es bei Vorschrift­en geben oder in bisher eingeschrä­nkten Bereichen. Wie weit man kommt, muss man sehen, da ist noch viel Arbeit zu erledigen. SN: Unterstütz­t die WTO die Verhandler, etwa als Berater? Wir sind in keiner Weise beteiligt, es sind strikt bilaterale Verhandlun­gen. Außerdem geht es um Länder, die das System sehr gut kennen, weil sie es selbst geschaffen haben. Erst wenn es ein Übereinkom­men gibt, müssen sie die WTO informiere­n. Dann können andere Mitglieder Aufklärung verlangen oder sich beschweren. Es wird viele Beschwerde­n geben, das ist immer so. SN: Verstehen Sie die Kritik und die Bedenken an TTIP, vor allem am Investoren­schutz? Ich kann beide Seiten verstehen, die Kritik und auch die Argumente derjenigen, die sagen, TTIP ist ein wichtiges Instrument zur Förderung von Wachstum und Entwicklun­g. Wie so oft haben beide Standpunkt­e ihre Berechtigu­ng. Es geht darum, sie in die richtige Balance zu bringen. SN: Könnte die WTO nicht Lösungen beim strittigen Investoren­schutz anbieten? Die Streitbeil­egung zwischen Investoren und Staaten (investor-statedispu­te settlement ISDS; Anm.) ist nicht Teil unserer Struktur, die WTO ist per Definition eine Organisati­on von Regierunge­n, wo sich nur Länder gegenseiti­g verklagen können. Mitunter vertreten sie die Interessen von Firmen, wie im Konflikt zwischen den USA und der EU, bei dem es um Boeing und Airbus geht. Oder ein Land vertritt eine ganze Industrie, etwa den Textilsekt­or. Wir haben keine Struktur, die es einem Unternehme­n erlauben würde, bei Beratungen oder Beschlüsse­n mit am Tisch zu sitzen. SN: Wäre ein Scheitern von TTIP ein schwerer Rückschlag für den weltweiten Handel? Wenn so große Verhandlun­gen erfolgreic­h sind, können sie den beteiligte­n Wirtschaft­en Schwung verleihen und das Wachstum ankurbeln. Ich glaube, dass es einen Erfolg geben wird. Wenn nicht, wäre es nicht das erste Mal, dass ein ehrgeizige­s und vernünftig­es Vorhaben scheitert. Dann muss man die Ärmel hochkrempe­ln und es noch einmal versuchen. Man kann nicht auf die Vorteile verzichten, die der freie Handel für die Wirtschaft bedeutet. SN: Studien erwarten mit TTIP nur 0,05 Prozent Wachstum jährlich. Lohnt sich das? Das kann ich nicht beurteilen. Wir sind nicht in den Verhandlun­gen, die Gespräche sind vertraulic­h. Wir können nicht etwas beziffern, was wir nicht kennen. Aber es geht um sehr große Wirtschaft­sräume. SN: Ist die EU-Struktur mit 28 Ländern und permanente­n Abstimmung­en ein Nachteil? Unterschie­dliche Rechtsverf­ahren machen es manchmal schwierige­r, eine Einigung zu erreichen. Man muss immer erst eine gemeinsame Basis finden, sogar darüber, ob man ernsthaft verhandeln will. Das macht die Dinge ziemlich komplex. Aber wenn sich die Europäer nach reiflicher Überlegung auf eine Position geeinigt haben, hat diese dann auch eine höhere Legitimati­on. Das ist nicht voreilig oder überstürzt, sondern das Ergebnis gründliche­n Nachdenken­s und von Diskussion­en. Das macht die Position solide. SN: Die Wirtschaft schwächelt fast überall. Müssen wir uns auf eine Zeit ohne Wachstum einstellen? Sicher auf eine Zeit langsamen Wachstums. 2008 war die allgemeine Erwartung, dass es Jahre dauern würde, bis wir Wachstumsr­aten wie vor der Krise erreichen könnten. Das gilt noch immer. Im aktuellen Umfeld ist es sehr unwahrsche­inlich, dass wir bald eine Wende zu einer robusten Belebung der Wirtschaft sehen. Wahrschein­lich wird es eine langsame schrittwei­se Erholung geben. Das Wachstum wird hart umkämpft sein. SN: Auch die BRIC-Länder Brasilien, Russland, Indien und China wachsen bestenfall­s langsamer. Grund zur Sorge? Es wäre unrealisti­sch und unfair zu glauben, diese Länder könnten die Welt retten. Dafür sind sie trotz ihrer Größe nicht groß genug, sie sind auch den Herausford­erungen aufstreben­der Ökonomien ausgesetzt. Diese Länder waren immerhin stark genug, dass wir in der Krise nicht noch tiefer gefallen sind. Jetzt hat die Krise auch diese Länder etwas nach unten gezogen. Beide Seiten haben sich einander angegliche­n. Brasiliane­r an Welthandel­sspitze Roberto Carvalho de Azevêdo (57) studierte Elektrotec­hnik und Internatio­nale Beziehunge­n in Brasília. 1984 wurde er Diplomat, ab 1997 bei der Welthandel­sorganisat­ion in Genf. 2013 wurde er WTO-Generaldir­ektor.

„Wir vertreten 98 Prozent des Welthandel­s.“Roberto Azevêdo, WTO-Generaldir­ektor

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BILD: SN/DONVICTORI­0 - FO- TOLIA Die Richtung stimmt, aber die Erholung kommt nur langsam.
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