Schlamperei führte zum Inferno
Die kommunistische Staatsführung ordnet strengere Gesetze an. Präsident Xi Jinping rief dazu auf, „äußerst tief greifende Lehren“aus der Katastrophe in Tianjin zu ziehen.
In der chinesischen Großstadt Tianjin wächst die Angst vor gefährlichen Chemikalien, die sich bei einer gewaltigen Explosion am vergangenen Mittwoch über ein ganzes Stadtviertel gelegt haben.
Wie am Wochenende klar wurde, lagerten in der detonierten Halle große Mengen von Blausäureverbindungen, die schon in kleinen Mengen extrem giftig sind. Auf dem Gelände am Hafen schwelen immer noch Brände. Selbst Polizisten, die die Absperrung der Katastrophenzone in drei Kilometern Entfernung vom Explosionszentrum bewachen, tragen Gasmasken. Die Armee hat Experten für Chemiewaffen nach Tianjin geschickt. Bewohner der Zehn-Millionen-Metropole klagen Finn Mayer-Kuckuk berichtet für die SN aus China über Gestank und über gereizte Augen. Zahlreiche Feuerwehrleute mussten ihren Einsatz angeblich abbrechen, weil sie nichts mehr sehen konnten.
Mehrere internationale Firmen verfügen über Einrichtungen in unmittelbarer Nähe von „Ground Zero“der Explosion, darunter die BLG Logistics Group aus Bremen und der japanische Autokonzern Toyota. Volkswagen betreibt in einer anderen Gegend von Tianjin einen Produktionsstandort. Der Hafen ist ein wichtiger Umschlagplatz von Zulieferteilen für die Industrie im Großraum Peking und die angrenzende Provinz Hebei.
In den Trümmern fanden Feuerwehr und Armee 112 Leichen, darunter zahlreiche Kollegen, die Op- fer der ersten großen Explosion geworden sind. Knapp 100 Personen werden noch vermisst, darunter 85 Feuerwehrleute. Dafür konnten die Helfer zwei Überlebende überraschend aus Frachtcontainern bergen, die ihnen Schutz geboten hatten. Die Feuerwehr steckt in einem Zwiespalt: Sie müsste die Brandnester eigentlich mit großen Mengen Chemiepulver löschen, fürchtet jedoch, damit weiteren Überlebenden in den Trümmern zu schaden.
Einem Bericht in der „Neuen Pekinger Zeitung“zufolge befanden sich in dem explodierten Lagerhaus 700 Tonnen Natriumzyanid. Das wäre 70 Mal mehr als erlaubt. Natriumzyanid ist hochgiftig und belastet die Umwelt stark. Diese Blausäureverbindung blockiert bei Mensch und Tier die Zellatmung. Sie verbindet sich mit Wasser zu noch gefährlicheren Stoffen. Schlimmer noch: Nachdem die gigantische Explosion es in die Luft geschleudert hat, kann es nun großräumig herabregnen. Natriumzyanid kann durch die Haut in den Körper eindringen. Bei Kontakt mit Säure entsteht Giftgas.
Peking hat den Artikel der „Neuen Pekinger Zeitung“im Internet unterdrücken lassen und die Zensur verschärft. Die Regierung kündigte angesichts der Megakatastrophe eine Verschärfung der Gesetze zum Umgang mit Chemikalien an. Die Arbeitssicherheit und der Umgang mit Risiken müssten „auf breiter Front“verbessert werden, sagte Staatschef Xi Jinping. China müsse „äußerst tief greifende Lehren ziehen, die mit Blut bezahlt wurden“.
Tatsächlich stellt sich das Unglück als Kette von Behördenfehlern dar. Die Kommission für Arbeitssicherheit des Staatsrats ortete vor allem eine nachlässige Umsetzung bestehender Sicherheitsvorschriften. „Irreguläre Vorgehensweisen in der Arbeitspraxis“seien mehr die Regel als die Ausnahme gewesen.
Auch die Feuerwehr selbst könnte zu der Explosion beigetragen haben – obgleich unwissentlich. Sie hat versucht, einen kleineren Brand im Chemielager vorerst mit Wasser zu löschen, und dabei offenbar nicht darauf geachtet, was Firmen dort gelagert hatten und was da brannte. Eine Reihe der Chemikalien, darunter das Natriumzyanid, dürfte mit Wasser heftig reagiert haben. Dabei entstanden weitere giftige und entzündbare Verbindungen. Das würde erklären, warum die ganz große Explosion sich erst ereignete, als die Feuerwehr bereits mit mehreren Wagen vor Ort war. Nachdem die Natur des Brandes klar wurde, hat die Feuerwehr mit Sand weiter gelöscht.
Da aber niemand wusste, was eigentlich in der Halle gelagert wurde, trifft die Feuerwehr kein Vorwurf, zumal die Einsatzkräfte in dem Flammeninferno von Anfang an mutig und entschlossen gehandelt haben.
Am Pranger steht stattdessen die Hafenaufsicht, die die Lagerung von gefährlichen und entzündlichen Substanzen in der Binhai-Sonderwirtschaftszone erlaubt hat – einem Gebiet mit Mischnutzung aus Industrie, Logistik, Büros und Wohnungen. Direkt an das Warenlager schließen sich Mietshäuser an, die jetzt evakuiert sind. Offenbar fehlte den Verantwortlichen jedes Gefahrenbewusstsein. An dem Unglück sind keine Gesetzes- lücken schuld, sondern Schluderei und vermutlich Bestechlichkeit der Aufsichtsbehörden.
Angehörige von getöteten und verletzten Feuerwehrleuten stürmten eine Pressekonferenz, um auf die hohen Opferzahlen durch die Schlamperei aufmerksam zu machen. Sie beklagten auch, dass die Feuerwehr nicht ausreichend für Chemieunfälle ausgebildet und ausgerüstet sei.
Augenzeugen verglichen die Detonation am Mittwoch mit der Explosion einer Atombombe. Ein von innen leuchtender Ball aus Flammen entwickelte sich zu einer pilzförmigen Rauchwolke. Die Druckwelle zerstörte weiträumig Fensterscheiben und riss Menschen um. Der Knall war noch in einem Dutzend Kilometer Entfernung zu hören. Zurück blieb ein tiefer Krater.