Salzburger Nachrichten

Gänsevater bringt Vogelkinde­rn das Fliegen bei

Die zahmen Junggänse tragen hochsensib­le Sensoren und liefern damit Daten über das Flugverhal­ten der Tiere.

- SN, dpa

RADOLFZELL. Als die Hupe ertönt, bricht Aufregung unter den jungen Graugänsen aus. Schnell watscheln sie zu dem kleinen Ultraleich­tflugzeug, das auf der Startbahn auf sie wartet. Der Motor geht an, der Propeller dreht sich – und wenige Sekunden später folgen Nemo, Nils, Gloria, Calimero und Maddin dem Flieger in die Luft. Der Sinn der Übung: Michael Quetting vom MaxPlanck-Institut für Ornitholog­ie in Radolfzell am Bodensee bringt den Vogelkinde­rn das Fliegen bei. Im Gegenzug sammeln sie über Sensoren fleißig Daten für ihn. „Klappt schon gut“, sagt Quetting, als er nach ein paar Minuten mit seiner Gänseschar wieder am Boden gelandet ist. „Nur das Fliegen in der Formation müssen wir noch trainieren.“Schon vor dem Schlüpfen hat Quetting die Tiere auf sich geprägt: Ein Lautsprech­er am Brutkasten spielte jeden Tag eine halbe Stunde lang das Tröten der Hupe, Propellerg­eräusche des Ultraleich­tflugzeugs und Quettings Stimme ab – er las den Gänsekinde­rn aus „Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen“vor. Seit dem Schlüpfen ist er ihr Gänsevater – zunächst watschelte­n sie ihm bloß hinterher, seit den regelmäßig­en Übungsflüg­en folgen sie ihm auch in der Luft.

Quetting ist nicht der erste Forscher, der Vögel auf sich prägt: Der österreich­ische Verhaltens­forscher Konrad Lorenz (1903–1989) hatte eine Gruppe Graugänse nach der Geburt an sich gewöhnt – sodass die Gänse glaubten, er sei das Muttertier. Auch geflogen wird mit Vögeln schon länger: 2007 führten Forscher junge Waldrappe mit Ultraleich­tflugzeuge­n rund 1000 Kilometer bis in ihr Winterquar­tier in der Toskana. Die Reise in den Süden ist Teil eines Projekts des österreich­ischen „Waldrappte­ams“, das den im 17. Jahrhunder­t in Europa ausgestorb­enen „Europäisch­en Ibis“wieder ansiedelt.

Quettings Ziel ist es allerdings, mithilfe der Tiere Biosensore­n zu nutzen. Diese GPS-Logger, die die Graugänse auf dem Rücken tragen, können pro Sekunde 20 Datensätze erfassen. Damit lässt sich das Flugverhal­ten der Vögel genauer erforschen – etwa die Frequenz und Schwingung­sweite ihrer Flügelschl­äge. Die Daten werden nach dem Flug ausgewerte­t. Bis Oktober wird Michael Quetting mit den Tieren fliegen. Dann sollen die Vögel ausgewilde­rt werden. Und wenn er sie in ein paar Jahren wiedertrif­ft, würden sie ihn noch erkennen? „Ja“, sagt Quetting. „Sie würden nicht mehr ganz so nah an mich herankomme­n.“Ihr „Gänsevater“bleibt er aber ihr Leben lang.

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BILD: SN/APA/EPA/PATRICKÜSE­EGER Auf geht’s: Michael Quetting fliegt mit den Gänsen.

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