Wenn Völker wandern
Warum zittert Europa vor der Völkerwanderung und was kann man aus der Geschichte lernen?
Zur Zeit der Völkerwanderung waren vor eineinhalb Jahrtausenden kaum mehr als 100.000 Menschen auf einmal unterwegs – vertrieben von anderen Völkern wie den Hunnen, angezogen vom Reichtum Roms. Heute sind 50 Millionen Menschen weltweit unfreiwillig auf Wanderschaft. Der Wiener Historiker Walter Pohl, Experte für die spätantike Völkerwanderung, meint, dass man mit dem Blick auf damals auch für heute lernen kann. SN: Heute wird viel von „neuer Völkerwanderung“gesprochen. Ist das seriös oder für Sie als Historiker zu flapsig? Pohl: Es ruft aus meiner Sicht doch falsche Assoziationen hervor. Dass es das tut, ist aus historischer Sicht kein Zufall, weil diese Völkerwanderungszeit und vor allem die Art und Weise, wie darüber geschrieben worden ist, genau diese Bilder in unseren Köpfen verankert hat, die jetzt aktualisiert werden. SN: Man denkt an einfallende Horden. Wird mit dem Begriff nicht zu leicht Angst geschürt? Das ist genau das Problem, dass in der Darstellung der Ereignisse damals bestimmte Schreckbilder erzeugt worden sind, die bereits die damalige Realität verzerrt haben. Umso gefährlicher ist es, diese schon damals nicht ganz adäquaten Schreckbilder heute auf eine ziemlich andere Situation anzuwenden. SN: Damals wanderten 100.000, heute sind es 50 Millionen. Das, was am Ende der Antike den nachhaltigsten Effekt hatte, war die Einwanderung geschlossener Gruppen von Kriegern. Das ist der Unterschied. Das waren wenige Zehntausend, die aber die Chance hatten, in römischen Provinzen die Macht zu ergreifen mithilfe von Kräften innerhalb des Römischen Reichs. SN: Eigentlich war die Völkerwanderung eine Kettenreaktion von Fluchtbewegungen. Die Gründe waren unterschiedlich. Zum einen hatte das Römische Reich großen, durch innere Konflikte wachsenden Soldatenbedarf. Das Zweite ist, dass es Fluchtbewegungen gab, die vor allem durch die Hunnen ausgelöst wurden. Drittens war es durch die Karrieremöglichkeiten, die die spätrömische Gesellschaft vor allem Soldaten bot, attraktiv, zuzuwandern. SN: Heute kommen zum einen viele, die nicht vor den Hunnen, aber vor dem IS fliehen, andererseits kommen Menschen, die sich eine Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Situation erhoffen. Beide Phänomene kann man in der Antike durchaus feststellen. Die Logik, dass Menschen aus armen Ländern in reichere wandern, gibt es in vielen Gesellschaften. Was damals wie heute ausgeblendet wird, ist, dass viele reichere Länder in den sie umgebenden ärmeren Ländern ihre wirtschaftlichen Interessen haben. Die Römer holten Sklaven als Arbeitskräfte. Heute führen wirtschaftliche Interessen der reichen Länder dazu, dass Leute in Ländern, aus denen sie zu uns kommen, um einen Bruchteil dessen arbeiteten, was bei uns verdient wird. Das Gefälle entsteht auch durch Ausbeutung der armen Länder. SN: Warum fühlt sich Europa nun so bedroht, als stünden erneut die Hunnen vorm Tor? Das hängt mit den in den Medien und durch das Internet verbreiteten Schreckbildern zusammen. Es gibt auch immer eine Bereitschaft, das Fremde abzulehnen und als bedrohlich zu empfinden, die in den seltensten Fällen berechtigt ist. SN: Steckt Europa das uralte Schreckensbild einer feindlichen Übernahme weiter im Kopf? Es gibt uralte und neuere Feindbilder. Neue Feinde werden alten Feindbildern zugeordnet. In der Mediengesellschaft bedienen sich Gruppierungen wie der IS bewusst dieser Feindbilder, um ihren Effekt zu verstärken. Das Schreckenerregende ist eine bewusste Methode. Das Paradoxe ist nur, dass . . . SN: . . . das jetzt den Vertriebenen auf den Kopf fällt. Ja, Menschen, die vor diesen Kräften fliehen, werden bei uns mit den Leuten identifiziert, vor deren tödlicher Bedrohung sie davongelaufen sind. Das ist eine politische Verkürzung – eine bewusst betriebene Verkürzung, die ich für falsch und für politisch verheerend halte. SN: Kann man von damals für den Umgang mit der neuen Völkerwanderung etwas lernen? Da gibt es zwei Punkte. Der erste ist, dass das Römische Reich, das jahrhundertelang intensive Zuwanderung gefördert hat und eine sehr kosmopolitische Gesellschaft war, damit sehr gut zurechtgekommen ist und – ähnlich wie die USA in den vergangenen 200 Jahren – davon sehr profitiert hat. Zum Problem wurde zweitens aber, dass man Zuwanderern die militärische Macht übertrug. Die waren als Söldner billiger als die römische Armee. Die Lehre, die ich daraus ziehe: Solange man nicht die militärische Macht an die Zuwanderer delegiert, hat auch intensive Zuwanderung im Grunde keine gefährliche Folge. SN: Söldner sind da gefährlich? Wenn wir das Bundesheer abschaffen würden und seine Aufgaben an einen privaten Sicherheitsdienst auslagern, der billige Söldner einstellt, würde ich das für eine sehr bedrohliche Entwicklung halten. In den USA gibt es schon Anzeichen für so etwas. Aber friedliche Zuwanderung hat kaum jemals in der Geschichte eine Gesellschaft wirklich gefährdet. Von der Gesellschaft selbst gestützte Zuwanderung von bewaffneten Kräften ist gefährlich. SN: Waren die römischen Machtträger einst auch so überfordert mit der Völkerwanderung wie Behörden und EU heute? Die meisten waren es. Vor allem hat die Zuwanderung die inneren Konflikte, die es in der römischen Gesellschaft gab, verstärkt. Das heißt, es gab nie eine globale Konfrontation eines einigen Römischen Reichs mit den zuwandernden Barbaren, sondern es hat Koalitionen von Interessengruppen innerhalb des römischen Systems gegeben, die gedacht haben, sie können sich dieser bewaffneten Zuwanderer bedienen. Und das hat dazu geführt, dass das römische System zerfallen ist. SN: Sie haben einmal geschrieben: Rom kämpfte mit wirtschaftlicher Stagnation, sozialer Ungleichheit, Steuerdruck, politischer Instabilität, religiöser Unduldsamkeit. Die Fremden dienten als Blitzableiter. Sehen Sie da Parallelen zum Heute? Gerade das Wort Blitzableiter ist in diesem Zusammenhang aktuell. Das ist eine besonders beliebte Tendenz, Probleme, die es in unserer Gesellschaft gibt, äußeren Feinden oder eben Zuwanderern zuzuschreiben, die nichts dafür können. SN: Die Völkerwanderungszeit hat 200 Jahre gedauert. Müssen wir uns jetzt auch auf bewegte Jahrhunderte einstellen? Das ist gut möglich, hängt aber primär davon ab, wie die Verantwortlichen politisch handeln. Wenn jetzt die Mittel für die Versorgung der Menschen in Flüchtlingslagern in der Türkei oder Jordanien gekürzt werden, braucht man sich nicht zu wundern, wenn immer mehr Menschen nach Europa kommen. Der längerfristige Zusammenhang ist der, dass Prosperität in den Gesellschaften in Asien und Afrika die beste Voraussetzung dafür ist, dass die Leute nicht zu uns kommen. Vielleicht muss das T-Shirt, das wir kaufen, dann nicht mehr ganz so billig sein. Dahinter steht eine ökonomische Logik, die ganz anders ist, als die, die hinter der Völkerwanderung vor 1500 Jahren stand. SN: Zur politischen Logik: Gab es auch schon in Rom Politiker, die aus der Situation billig Kapital schlagen konnten? Ja, es gab sogar immer wieder Pogrome gegen Zuwanderer. Eine Politik der Unduldsamkeit zu verfolgen – das lässt sich aus der Distanz gut beobachten – ist kein Ausweg. Die Rhetorik war etwas anders, aber in ihrer Zuspitzung vergleichbar mit politischer Rhetorik heute – man kann aus zeitlicher Distanz leicht die Unangemessenheit solcher starken Sprüche nachvollziehen. SN: Welche Lehren gibt es noch? Man kann lernen, dass Integration im Prinzip bei Zuwanderung eine naturgegebene Tendenz ist, dass sie aber von der Bereitschaft beider Seiten abhängt, Integrationsprozesse zu fördern, nicht zu behindern. SN: Waren Migrationsbewegungen in der Geschichte nicht meist für die Zielländer sogar ein gutes Geschäft? Ja. Erfolg und Langlebigkeit des Römischen Imperiums beruhten nur auf der Integration von Fremden. Auch die Offenheit, mit der es möglich war, dass Menschen aus allen Provinzen Kaiser werden – auch Leute, die ehemals „barbarischer“Abstammung waren – hat das Römische Reich als politisches System unersetzlich gemacht, weil die Machtkonflikte immer innerhalb des Systems stattgefunden haben. Im fünften Jahrhundert war das dann nicht mehr der Fall. – In dem Augenblick, wo man beginnt, Zuwanderer zu diskriminieren und ihre politischen Rechte zu beschränken, fällt das politische System auseinander, weil sich Machtkonflikte außerhalb abzuspielen beginnen. SN: Das heißt für uns heute? Dass man integrierten Zuwanderern Möglichkeiten politischer Vertretung innerhalb des Systems zugestehen sollte.
„Opfer werden mit Bedrohern verwechselt.“
Zur Person: