Daheim in einem unbekannten Land
Wo wohnt der Jazz? In einer US-Kleinstadt? Oder einem aufregenden Niemandsland? Spannende Hinweise fanden sich in Saalfelden.
SALZBURG. Wohin die Reise noch gehen könnte, weiß auch Rob Mazurek nicht immer ganz genau. In dem silbernen Köfferchen, das er vor sich stehen hat, ist deshalb nur ein Teil seiner Utensilien verstaut. Den Rest hält er in den Händen. Mit der Trompete links und einer Kordel mit kleinen Glöckchen und Schellen rechts schwört er die Zuhörer auf das Ungewisse ein.
Am Samstagmittag, als er mit seinem kammermusikalischen Projekt São Paulo Underground im Kunsthaus Nexus die Nebenreihe Short Cuts beendet hat, liegt dieses unbekannte Land irgendwo zwischen dem Knistern elektronischer Sounds, die aus dem mit Effektgeräten bestückten Köfferchen ebenso dringen können wie aus den MiniSynthesizern seines Kollegen Guilherme Granado, und dem analogen Scheppern und Rasseln der Percussioninstrumente.
Das Unerforschbare zwischen Himmel und Erde hat er hingegen mit einer größeren Abordnung seiner brasilianischen Band auf der Hauptbühne des Jazzfestivals Saalfelden mit Klang zu bändigen versucht. Dort hat er am Freitagabend sein Jazzritual „Return the Tides“abgehalten, eine Art Requiem auf den Tod seiner Mutter, das sich aber nicht mit Resignation abfinden will, sondern aus hymnisch entgrenz- tem Spiel Kraft schöpft. Dazu gehören auch Anrufungen der Jazzheiligen John Coltrane und Albert Ayler. Seine einstige Wahlheimat Brasilien hat er mittlerweile wieder gegen das Grenzgebiet zwischen USA und Mexiko eingetauscht.
Die Frage, wo der Jazz zu Hause ist, ließ unterdessen beim diesjährigen Jazzfestival Saalfelden wieder viele Antwortmöglichkeiten zu. Vielleicht muss man die einstmals aufmüpfige Musik heute in einem Reihenhaus einer US-Kleinstadt suchen? Zumindest legte die Band, die am Samstagabend auf der Hauptbühne ihren Spielwitz ausbreitete, den Schluss mit ironischem Augenzwinkern nahe: Das Quartett Mostly Other People Do The Killing hat seine Songs, die es in Saalfelden zu Beginn anstimmte, allesamt nach Kleinstädten im US-Bundesstaat Pennsylvania getauft. Spießig klingt es freilich keinesfalls, wenn die Formation um Krawattenträger Moppa Elliott mit subversivem Humor Klischees zwischen Bebop und Bossa zerlegt.
Der Ernst hatte ohnehin davor schon seinen Auftritt: Mit seiner jung besetzten Großformation suchte US-Saxofonist Steve Coleman das Gleichgewicht zwischen Freigeistigkeit und ausgeklügeltem Regelwerk. „Council of Balance“nennt er sein Projekt. Mit mehreren Streichinstrumenten im 14-köpfigen Ensemble kippte der Balanceakt aber immer wieder in Richtung der einst gefürchteten CrossoverIdeen zwischen Jazz und Klassik.
Heimatlosigkeit in einer tragisch aktuellen Dimension war heuer bei der Eröffnung des Jazzfestivals zum Thema geworden: Die Programmverantwortlichen hatten nach den Eröffnungsreden das Publikum aufgefordert, durch Aufstehen einen humanen Umgang mit Menschen auf der Flucht zu fordern.
Mit durchwegs düsteren Klängen hatte danach die in Wien lebende slowenische Sängerin, Flötistin, Elektronikerin und Komponistin Maja Osojnik das Festival eröffnet. Musikalisch kreist ihr Projekt „All.The.Terms.We.Are“indes ebenfalls um Identitätsfragen. Diese stellen sich in der Jazzavantgarde wie in kaum einem anderen Genre ständig wieder aufs Neue. Denn eine Musik, die das Auflehnen gegen Regeln schon früh zum Kunstprinzip erhoben hat, lässt sich auch schwer an Regeln messen. In Osojniks Songzyklus, der von Kontrabässen, Cello, Klavier, Elektronik, Schlagzeug und einer imposanten Bassflöte dunkel grundiert war, entpuppte sich immer wieder die Sprache als spannendstes Instrument: „Ich werde eine leere Straße sein, damit du auf mir gehen kannst“, hieß es da etwa.
In Sachen Unvorhersehbarkeit hatte indes Pierre Charial einen Nachteil gegenüber den anderen Teilnehmern des Saalfelden-Jahrgangs 2015. Wann ein Stück zu Ende sein wird, ist seinem Instrument immer anzusehen. Charial, Triopartner von Klarinettist Michael Riessler und Cellist Vincent Courtois, spielt Drehorgel. Die Kompositionen sind präzise in hohe Stapel von Lochkarten gestochen, die Cha- rial mit bewundernswertem Groove durch das Klangwerk kurbelte. Faszinierend, wie das Zusammenspiel der filigranen Instrumente und der historischen Soundmaschine seine Sogwirkung entfaltete. Dabei war das Trio kurzfristig als Ersatz für einen entfallenen Act eingesprungen. Das Unerwartete blieb in Saalfelden (das Festival endete am Sonntagabend nach Redaktionsschluss dieser Ausgabe) auch heuer der stärkste Trumpf.