Hier gehen die Uhren anders
Als „Ring“-Novize in Bayreuth: Erfahrungen von einem, der kein „Wagnerianer“ist, der aber vier Abende lang der Aura und Magie des „Grünen Hügels“nicht entkommt.
außergewöhnliche Konzentration, und diese ist beim Publikum deutlich zu spüren. Hier kommen sie zusammen, die sogenannten „Wagnerianer“, als eine Art verschworene Gemeinschaft, um sich über Werk und Wirkung, Kunst und Interpretation auszutauschen.
Wie erlebt das ein „Ring“-Novize, der schon manche „Ringe“erlebt hat, aber immer nur – wegen der allgemeinen Produktionsbedingungen an Opernhäusern – in einer Abfolge von ein, zwei oder, wie im Falle der Salzburger Osterfestspiele, gar vier Jahren, nicht als genuines Ereignis von einer Woche?
Eben genau das ist das besondere Erlebnis. Weil man sich darauf ganz und gar einlassen muss. Weil auch der Ort, in dem „die Wagners“seit je ansässig waren und sind, einen nicht loslässt, ohne dass man freilich eine allumfassende, auf Schritt und Tritt spürbare „Wagnerei“erleben würde.
Heuer hat Wagners Wohnsitz, die Villa Wahnfried („wo mein Wähnen Frieden fand“), nach langjähriger Renovierung wieder offen. Das Ri- chard-Wagner-Museum hat sich neu (und auch didaktisch sehenswert) aufgestellt, zeigt als Inkunabel die handschriftliche Partitur von „Tristan und Isolde“, der heurigen Neuinszenierung, und ist sogar um einen dezent eleganten Neubau erweitert worden. Den heiklen Kapiteln der Geschichte, sprich: den Verstrickungen der Familie und des Werks in den Nationalsozialismus, seinen Vorboten und zu lange währenden Nachwirkungen, geht man nicht aus dem Weg. Aber könnte und sollte man da nicht doch noch deutlicher werden?
Das Erlebnis einer solchen „Ring“-Woche gehört dem Werk. Es ist fordernd in der geistigen, nicht minder aber auch der körperlichen Anstrengung, die man bewusst auf sich nimmt in den engen Reihen und auf den ebenso engen, harten Klappstühlen ohne Armlehnen, ohne heute übliche Klimaanlage, dafür dicht an dicht mit bis zu 64 „Mitbesitzern“in der längsten durchgehenden Reihe des 1974 Plätze fassenden Hauses.
Da muss man dann mit starker Kondition durch: zweieinhalb Stunden pausenloses „Rheingold“, tags darauf die drei Akte „Walküre“mit etwa 60, 90 und 75 Minuten, dann nach dem ersten Ruhetag „Siegfried“(drei Mal etwa 80 Minuten) und dann, wieder nach einem Ru- hetag, „Götterdämmerung“, deren erster Akt etwa zwei Stunden dauert, der zweite eine, der dritte wiederum knapp 80 Minuten.
Die Pausen zwischen den Akten gehen jeweils über eine Stunde: Zeit für Buffet oder Picknick, einen Besuch in der Kneippanlage oberhalb des Festspielhauses oder einfach zum Flanieren im tatsächlich autofreien Gelände, somit wirklich dem „schönsten Foyer der Welt“. Da kann die heimische Hofstallgasse, die dieses Epitheton sich so gern anheftet, nicht im Entferntesten mithalten.
Nach den Vorstellungen, an den Gasthaustischen, kommen unweigerlich Diskussionen mit Gleichgestimmten in Gang – eigentlich nie nur Small Talk, sondern kultiviert, sachbezogen, streitbar im besten Sinn. Hier geht es um die Sache, konkret: die im dritten Jahr angekommene Inszenierung von Frank Castorf, die fern der Premiere erstaunlich gleichgültig zur Kenntnis genommen wird. Sie ist, zum ersten Mal gesehen, tatsächlich auch erstaunlich harmlos, eine sich halbanarchisch, aber, besonders im „Rheingold“, auch wieder erfrischend witzig gebende Collage, deren krude Elemente man nicht unbedingt zu entschlüsseln braucht, weil man ohnedies nicht wirklich klug wird aus vielen Konnotatio- nen. Ärgerlicher ist da doch, dass sich der Regisseur nicht darum kümmert, dass zwischen den Figuren sich etwas ereignet. Nur Hingestelltes, nichts Hergestelltes. Vor allem: Bilder. Diese sind aber, in der tollen Fantasie des Designers Aleksandar Denic, schon drei Viertel der Miete.
Besonders gefeiert wurde heuer freilich die letztmalige musikalische Leitung durch Kirill Petrenko, den man nicht anders als einen „Weltwunderdirigenten“nennen kann. Das ist, noch dazu an diesem besonderen Ort mit seinem unvergleichlichen Klang, Magie pur, die musikalische Inszenierung einer unübertrefflichen Sonderklasse, vom unscheinbarsten Detail bis in die höchsten Stufen der Ekstase oder die tiefsten (Ab-)Gründe des Fiesen, Finsteren. Ein KlangWelttheater von unübertreffbar grandioser Energie – und immer mit und für die Sänger, mit denen man auch eine besondere Erfahrung macht: wie anstrengend, schwer und eigentlich unlösbar es ist, einen „Ring“durchzusingen. Aber auch: wie befreiend und großartig.
An das Salzburger Festspielgetriebe, selbst im ruhigeren Finale, muss man sich danach erst wieder gewöhnen . . .