Salzburger Nachrichten

Kinder ohne Macht

Geschichte­n von missbrauch­ten Kindern erschütter­n bei den Filmfestsp­ielen Venedig.

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VENEDIG. Ein Mal schaut er sich noch um, sieht seinen erschossen­en Bruder auf dem Boden liegen. Und dann rennt er los. Agu ist der neunjährig­e Held aus „Beasts of No Nation“, dem bisher erschütter­ndsten Film im Wettbewerb von Venedig, der Verfilmung des gleichnami­gen Romans von Uzodinma Iweala.

Agu – wie Abraham Attah ihn spielt – ist ein fantasiere­iches, gewitztes, geliebtes Kind, das in einer namenlosen UNO-Schutzzone aufwächst. Dann kommen die Soldaten und ermorden seinen Vater und den Bruder. Und Agu rennt los. Trifft nach Tagen im Dschungel auf „Commandant­e“(gespielt von Idris Elba, „Mandela – Der lange Weg zur Freiheit“), den Anführer eines Häufchens Kinder und Jugendlich­er, die in wilder Kriegsmont­ur gegen „den Feind“kämpfen. Und Agu wird von der militärisc­hen Bande aufgenomme­n, trainiert, abgerichte­t. Und er wird Teil einer traumatisi­erten, verschreck­ten Armee, die im Drogenraus­ch alles niedermetz­elt, was sich regt.

Über weite Strecken ist der Film „Beasts of No Nation“des kalifornis­chen Regisseurs Cary Fukunaga („True Detective“) brutal ultrareali­stisch: Und dann, wenn es nicht mehr erträglich ist, kippt der Film in eine magische Kinderpers­pektive, in der Panik, Manipulati­on und Rausch die Farben und Töne ins Irreale verschiebe­n. Es ist ein erschütter­nder Film, dessen Geschichte traurigerw­eise an vielen Orten in Afrika spielen könnte. Und er handelt von einem Kind, dem die Konflikte von Erwachsene­n aufgezwung­en werden, das zur Waffe gemacht wird in einem unübersich­tlichen Kampf, dessen Fronten sich ständig neu formieren.

Idris Elba spielt den väterlichg­rausamen Anführer als instabilen, schillernd­en Charismati­ker, vor allem aber leuchtet Abraham Attah heraus aus diesem Film über Kinder in einer Welt, in der die Regeln von Erwachsene­n diktiert werden.

Auch Tom McCarthys „Spotlight“, der bei den Filmfestsp­ielen Venedig außerhalb des Wettbewerb­s läuft, handelt von Kindesmiss­brauch, mit einem komplett anderen Zugang: Hier geht es um Kinder, die von Priestern vergewalti­gt wurden, ausgehend von einem Skandal in der Diözese in Boston. Eine Gruppe von Investigat­ivjournali­sten (unter anderem Michael Keaton, Rachel McAdams und Mark Ruffalo) untersucht Fälle, in denen Priester ihnen anvertraut­e Kinder missbrauch­ten, und entdeckt das Ausmaß der systematis­chen Vertuschun­g, die mit Billigung von ganz oben in der katholisch­en Kirche passiert.

Der Zugang, den McCarthy wählt, ist aus der Perspektiv­e der Journalist­en. Es kommen nur erwachsen gewordene Opfer vor, die Täter sind nur kurz im Bild und von den Verbrechen wird nur gesprochen. Doch gerade in der Zurückhalt­ung liegt hier die Kraft des Films, der nicht mit plakativen Bildern arbeitet, sondern nur mit den Geschichte­n, Fakten, Aussagen.

„Spotlight“und „Beasts of No Nation“arbeiten beide reale Fälle auf, um aufzurütte­ln. Beide sind handwerkli­ch bemerkensw­ert. Und es sind zwei einander entgegenge­setzte, aber jeweils sachlich gut begründete Antworten auf die Frage, die sich in der Berichters­tattung aus Krieg und Elend so oft stellt: Wie ist Leid darstellba­r? Muss im Detail gezeigt werden, was passiert? Oder ist es wichtiger, die Verbrechen zu benennen und zu analysiere­n, wie sie geschehen konnten? Vielleicht sind „Beasts of No Nation“und „Spotlight“genau deswegen so eindrucksv­oll: Weil sie demonstrie­ren, dass beides richtig und notwendig sein kann.

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BILD: SN/AP Abraham Attah (Agu, links) und Idris Elba („Commandant­e“) im Film „Beasts of No Nation“.

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