Giotto hat den Moment verewigt
Was geht beim Krönen in einem Menschen vor? Giotto hat dafür eine Bildsprache gefunden.
MAILAND. Was auf diesem Krönungsbild zu sehen ist, kann als Gegenteil von Emanzipation verstanden werden. In „Emanzipation“steckt das lateinische Wort für Hand („manus“); ein sich emanzipierender Mensch entzieht sich einer lenkenden Hand im Sinne einer Ordnung oder einer Sphäre, die Rechte und Pflichten auferlegt. Ebenfalls durch Hände, nämlich durch Auflegen der Hände auf den Kopf eines anderen Menschen, erfolgt das, was durch Emanzipation wieder aufgelöst würde: Diese Geste symbolisiert die Aufnahme in eine alle Ahnen wie alle Zukunft umfassende Sphäre. Das behutsame Handauflegen oder nur dessen Andeutung kann ein Segnen ebenso bedeuten wie hier ein Krönen.
In einer Krönung diese Geste der Ein- und Unterordnung zu erkennen ist deshalb interessant, weil Krönen zum Herrschen ermächtigt – anders gesagt: Damit wird Verantwortung übertragen. Die Krönung verbunden mit der Symbolsprache des Auflegens der Hände durch einen anderen vermittelt also die Autorität, im Sinne dieser vergangenen und künftigen Ganzheit zu entscheiden – anders gesagt: nicht selbstgefällig oder eigenmächtig, sondern moralisch zu herrschen.
Es könnte sein, dass diese – in gewisser Hinsicht unemanzipierte – Frau, die auf dem zentralen Bild des Flügelaltars gekrönt wird, sich all dessen gewahr ist, so ruhig und ernst blickt sie. Und doch vermittelt ihre Gefasstheit, wie bewegt sie offenbar ist. Dass solch tiefe Lebendigkeit, ein solch glückhafter wie schwerwiegender Moment auf einem Stück Holz so festgehalten wird, dass er fast 700 Jahre später noch beeindruckt, zeugt für eine der größten Erfindungen und Erneuerungen der Bildersprache.
Diese hat der Italiener Giotto di Bondone (1266–1337) vollbracht, und mit einer Würdigung dieses Künstlers setzt Mailand den finalen kunsthistorischen Akzent im Jahr der Weltausstellung (Expo). Dass in der soeben eröffneten Ausstellung „Giotto – L’Italia“im Palazzo Reale nur vierzehn Werke zu sehen sind, erscheint aufs Erste unspektakulär. Außergewöhnlich ist dies allerdings deshalb, weil Giottos Schaffen sonst an seinen Fresken zu studieren ist – wie in Padua, Assisi oder Florenz. Hier in Mailand ist Giottos Kunst überwiegend anhand von Tafelbildern zu erleben – von Frühwerken wie der Madonna von San Giorgio alla Costa aus 1288 bis zum Flügelaltar (Polyptychon) der Madonna mit Kind von Bologna aus 1333. Leihgaben kommen unter an- derem aus dem Vatikan, den Uffizien, San Diego und einer Privatsammlung.
Die für die Renaissance bahnbrechende Innovation Giottos bestand darin, dass er statt statischer Bildikonen im byzantinischen Stil erzählerische Szenen malte. Er begann, Bildflächen in Räume aufzulösen. Den Eindruck von Lebendigkeit erzeugte er durch prägnante Farben wie präzise Mimik und Gestik, die blitzhafte, von großer Emotion begleitete Ereignisse ausdrücken – Anblick eines Toten, Anblick eines Neugeborenen, Wiedersehen, Verkündigung, Erleuchtung, Verrat.
Die zu krönende Frau hüllt er in einen zarten, verletzlichen Schleier, dessen Faltenwurf schon bei kleiner Bewegung nicht mehr so ebenmäßig wäre. Er gibt ihr einen präsenten Blick und ein anmutig junges Gesicht. All dies steht für Vergänglichkeit, doch Giotto vermochte als Erster das Vergängliche der großen Augenblicke zu verewigen.
Ausstellung: