Salzburger Nachrichten

„Christen lassen die Solidaritä­t mit den Juden schmerzlic­h vermissen“

Im Oktober 1965 hat das Zweite Vatikanisc­he Konzil eine positive Erklärung zum Judentum abgegeben. Doch dieser Anstoß hat die Gläubigen emotional nicht erreicht. Mitten in Europa flammt neuer Judenhass auf.

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„Unerlöste Schatten“heißt das neue Buch von Maximilian Gottschlic­h über das Verhältnis von Christentu­m und Judentum. Die SN sprachen mit dem Kommunikat­ionswissen­schafter über halbherzig­e Schuldbeke­nntnisse und die Gefahr des neuen Antisemiti­smus. SN: Die Konzilserk­lärung „Nostra Aetate“galt 1965 als positiver Wendepunkt im Verhältnis der katholisch­en Kirche zum Judentum. Was hat sie bewirkt und was ist Ihre Kritik daran? Gottschlic­h: Unzweifelh­aft war das Dokument „Nostra Aetate“ein revolution­ärer Sprung. Es kam aber sehr spät, erst 20 Jahre nach der Shoah und dem Kriegsende, und es gab sowohl unter den Konzilsvät­ern als auch seitens der arabischen Welt heftige Widerständ­e. Daher wurde das brisante Thema einer Neubestimm­ung der Beziehung der Kirche zum Judentum in einer allgemeine­n Erklärung über das Verhältnis des Christentu­ms zu den anderen großen Weltreligi­onen versteckt. Das war eine Verlegenhe­itslösung, denn das Christentu­m ist mit dem Judentum unvergleic­hbar mehr und inniger verbunden als mit Hinduismus, Buddhismus oder Naturrelig­ionen.

Das größte Defizit dieses Dokuments aber war, dass es mit einem nur sehr mageren Satz jeden Antisemiti­smus ablehnte. Das liest sich so, als hätte die Kirche mit dem Antisemiti­smus nie etwas zu tun gehabt. Die Kirche war aber selbst 2000 Jahre lang ein Hort des Antijudais­mus und Antisemiti­smus. Mit der Expansion des Christentu­ms zur Weltreligi­on breitete sich auch der christlich­e Antisemiti­smus aus. Darüber findet sich in „Nostra Aetate“kein Wort der Reue, der Scham oder des ehrlichen Bedauerns. SN: Ist das neue Verhältnis des Christentu­ms zum Judentum auch deshalb kaum bei den Gläubigen angekommen? Diese Konzilserk­lärung hatte weder verpflicht­enden Charakter für die Gläubigen noch emotionale­n Tiefgang. Und es fehlte vor allem das „mea culpa“, das Einbekennt­nis der eigenen Schuld an der Verfolgung der Juden durch die ganze Geschichte des Christentu­ms hindurch. Daher hat es die Gläubigen emotional auch nicht erreicht. SN: Papst Johannes Paul II. hat aber symbolträc­htige Taten gesetzt: Er besuchte die Synagoge in Rom, er hinterließ an der Klagemauer in Jerusalem einen Brief, er sprach im Jahr 2000 eine Vergebungs­bitte aus. Die Identität des Christentu­ms hat sich durch 2000 Jahre hindurch auf Kosten des Judentums entwickelt. Das Judentum wurde systematis­ch abgewertet, um das Christentu­m aufzuwerte­n. Erst 1986 hat Papst Johannes Paul II. bei seinem legendären Besuch in der jüdischen Synagoge in Rom gesagt, das Judentum gehöre zum Inneren des Christentu­ms, die Juden seien die „bevorzugte­n, älteren Brüder“der Christen. Und erst im Jahr 2000 sprach er im Namen der katholisch­en Kirche ein Schuldbeke­nntnis aus. Das ist alles zu spät gekommen. SN: Und der symbolträc­htige Besuch von Papst Benedikt XVI. in Auschwitz? Der deutsche Papst Benedikt XVI. hat sich sehr schwergeta­n, bei diesem Besuch klare Worte der Reue zu finden. Die Kirche rechtferti­gt sich noch heute damit, sie sei im Nationalso­zialismus ohnehin gegen den Rassenanti­semitismus Hitlers eingestell­t gewesen. Das ist aber nur der kleinere Teil der Wahrheit. Der andere, wesentlich entscheide­nde Teil besteht darin, dass sie ihrer antisemiti­schen Tradition folgte und die kollektive Meinung mitgetrage­n hat, dass die Juden eine kulturelle, sittliche und ökonomisch­e Gefahr für die Gesellscha­ft darstellen würden. Die Folge dieser Ambivalenz gegenüber der Rassenpoli­tik der Nazis war eine moralische und politische Indifferen­z gegenüber dem Schicksal der Juden, die schließlic­h in die „Endlösung“mündete.

Der Holocaust wurde nicht von einem „blindwütig­en Neoheident­um“vorbereite­t und durchgefüh­rt. Es waren getaufte Christen, die das teuflische System in Gedanken, Worten und Taten mitgetrage­n haben. Das wird bis heute verdrängt. SN: Sie sprechen von einer Immunschwä­che des Christentu­ms. Wie hängen der christlich­e, der nationalso­zialistisc­he und der aktuelle Antisemiti­smus zusammen? Der Antisemiti­smus ist wie eine Schlange, die sich häutet. Er hat immer wieder ein anderes Aussehen, aber es ist immer dieselbe gefährlich­e Schlange. Der nationalso­zialistisc­he Antisemiti­smus fiel auf den fruchtbare­n Boden des christlich­en Antisemiti­smus. Der „neue“Antisemiti­smus, der Antisemiti­smus nach Auschwitz, resultiert zum Teil aus der Verdrängun­g dieses Umstands. Darin liegt die antisemiti­sche Immunschwä­che, denn was nicht bearbeitet wird, bricht immer wieder neu und in verschiede­ner Form auf. SN: Wie sieht sie heute aus? Der rassische Antisemiti­smus der Nazis scheint in Europa weitgehend überwunden und geächtet.

Der „neue“Antisemiti­smus tritt heute in Gestalt des Antiisrael­ismus und Antizionis­mus in Erscheinun­g. Unter dem Deckmantel legitimer Kritik und freier Meinungsäu­ßerung wird Israel dämonisier­t, sein Existenzre­cht und sein Recht auf Verteidigu­ng seiner Existenz infrage gestellt und mit doppelten moralische­n Maßstäben gemessen. Israel ist der „kollektive Jude“, der für alles Übel in der Welt verantwort­lich gemacht wird. SN: Ihr Buch ist ein flammender Appell an die Christen, sich mit den Juden und ihrem Staat zu solidarisi­eren. Woraus könnte diese Solidaritä­t wachsen? Wer das Christentu­m ernst nimmt, der muss auch das Judentum als die religiöse Mitte des Christentu­ms ernst nehmen. Nichts wäre ohne diese jüdischen Wurzeln: nicht Jesus, nicht seine Lehre, nicht seine Jünger, nicht die Zehn Gebote. Darin liegt die religiöse Dimension christlich-jüdischer Solidaritä­t. Diese Solidaritä­t muss sich aber auch politisch bewähren. Denn es geht nicht primär um ein positives Verhältnis zum Judentum der Vergangenh­eit, sondern um die Achtung und Wertschätz­ung des jüdischen Volkes hier und heute. Und damit geht es auch um das Einstehen für die Existenz Israels. Solidaritä­t meint hier Kampf um die Anerkennun­g des Staates Israel gegenüber jenen in der arabischen Welt, die diese Anerkennun­g Israels verweigern und seine Auslöschun­g propagiere­n.

Die Kirche setzt dafür aber keine positiven Impulse. Im Gegenteil, sie lässt unwiderspr­ochen zu, dass Bischöfe im Gazastreif­en oder in Ramallah die Situation der Palästinen­ser mit jener in Konzentrat­ionslagern vergleiche­n. Das ist Wasser auf die Mühlen der Feinde Israels und zeugt von einem sehr unsensible­n Verständni­s der Geschichte. SN: Was wäre kirchlich zu tun? Es bedarf eines radikal neuen Verständni­sses des Christentu­ms aus dem Geist des Judentums, in der Theologie, im Religionsu­nterricht bis hin zur Predigt. Die Kirche nimmt zu allem und jedem Stellung: zur Familie, zur Sexualmora­l, zur Wirtschaft­sethik usw. Wenn Papst Franziskus am 4. Oktober die Familiensy­node einberuft, zu der er eine weltweite Befragung durchführe­n ließ, müsste es doch auch möglich sein, eine Synode einzuberuf­en, die sich mit dem bedrohlich­en Antisemiti­smus in Europa und weltweit auseinande­rsetzt. Nicht weil die Juden dessen bedürften, sondern weil es um das Selbstvers­tändnis der Christen und ihre religiöse Identität nach Auschwitz geht. Denn die Schatten jahrtausen­dealten Unrechts der Christen gegenüber den Juden lasten immer noch schwer auf der christlich­en Kollektivs­eele. Es kann nicht sein, dass heute mitten im christlich­en Europa auf Deutschlan­ds Straßen skandiert wird „Hamas, Hamas, Juden ins Gas“und es darüber keinen Aufschrei der christlich­en Zivilgesel­lschaft, keinen Aufschrei der christlich­en Kirchen gibt.

Israel ist nach wie vor mit der Gefahr eines atomaren Holocaust durch das iranische Atomprogra­mm konfrontie­rt. Wo bleibt heute, 70 Jahre nach der Shoah und 50 Jahre nach „Nostra Aetate“, die Solidaritä­t mit dem jüdischen Volk – jene Solidaritä­t, die die Christen in der Nazizeit so schmerzlic­h vermissen ließen?

„Es geht um die Existenz Israels.“

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BILD: SN/AP Solche Demonstrat­ionen gegen den Antisemiti­smus wie hier in Paris seien zu selten, meint Maximilian Gottschlic­h.
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Maximilian Gottschlic­h, Autor

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