Salzburger Nachrichten

Der Fremde in der eigenen Wohnung

Wenn die Vergangenh­eit das Glück einholt: Zwei Filmikonen ergründen in „45 Years“die späte Krise eines altvertrau­ten Paares.

- Andrew Haigh, Regisseur 45 Years. Drama, Großbritan­nien 2014. Regie: Andrew Haigh. Mit Charlotte Rampling, Tom Courtenay, Geraldine James, Dolly Wells, David Sibley. Start: 18. September.

Szenen einer Ehe: Kate und Jeff sind ein Bilderbuch­paar, demnächst steht das 45. Hochzeitsj­ubiläum bevor. Da bekommt Jeff einen Brief: Die Leiche einer Frau wurde gefunden, die Jahrzehnte früher in eine Gletschers­palte gestürzt war. Wer war sie und was hatte sie mit ihm zu tun? „Unaufricht­igkeit zu Beginn prägt, wie die Liebe danach funktionie­rt“, sagt der britische Regisseur Andrew Haigh im Interview. Sein Film „45 Years“brachte den Hauptdarst­ellern Tom Courtenay und Charlotte Rampling in Berlin die silbernen Schauspiel­bären, nun kommt der Film ins Kino. SN: Ihr Erstlingsf­ilm „Weekend“handelte davon, ob aus einer Begegnung etwas Ernstes wird. Hier schaut jemand zurück auf 45 Jahre einer glückliche­n, aber vielleicht nicht ehrlichen Beziehung. Haben die beiden Filme miteinande­r zu tun? Haigh: Ich sehe die beiden als Geschwiste­rfilme. Eine Beziehung wird stark dadurch geprägt, was in der Zeit des Kennenlern­ens pas- siert. Was in diesen ersten Wochen und Monaten geschieht, diktiert nach meiner Erfahrung mit, was im Laufe der ganzen Beziehung passieren wird. In „Weekend“sind die bei- den zu Beginn sehr ehrlich miteinande­r, und obwohl aus dieser Beziehung letztlich nichts wird, ist es doch für beide eine wesentlich­e Erfahrung. Das Paar in „45 Years“hingegen war am Anfang der Ehe nicht ganz aufrichtig zueinander, und das hat die gesamte jahrzehnte­lange Beziehung beeinfluss­t. SN: Kate stellt die ganze Ehe infrage, als sie von Jeffs früheren Bekannten erfährt. Wie hätte er reagiert, hätte umgekehrt sie ihm ihre Vergangenh­eit verschwieg­en? Darüber habe ich nicht nachgedach­t. Mir war wichtig, dass sie die zentrale Figur innerhalb dieser Geschichte bleibt. Es gibt so viele Filme und Bücher, die sich mit der existenzie­llen Krise eines Mannes befassen, jeder einzelne Roman von Philip Roth handelt davon. Aber aus weiblicher Sicht gibt es da erstaunlic­h wenig, vor allem in den Kinofilmen. Insofern war es für mich viel spannender, eine Frauenpers­pektive zu untersuche­n, anstatt eine weitere Männerkris­e zu erzählen, und noch mehr verletzte Männergefü­hle zu erforschen. SN: Sie sind erst 42 Jahre alt, „45 Years“hat aber eine anrührende, sehr intime Bettszene unter Menschen Ihrer Elterngene­ration. Haben Sie dafür eine Inspiratio­nsquelle? Manches stammt aus der zugrunde liegenden Kurzgeschi­chte, aber vor allem war mein Gedanke: Ich kann mir nicht vorstellen, dass Leute in ihren Sechzigern und Siebzigern fundamenta­l anders sind als Leute in ihren Dreißigern oder Vierzigern. Ich glaube nicht daran, dass wir an unserem 27. Geburtstag plötzlich denken: „Oh, jetzt versteh ich alles!“Das ist doch nicht wahr, wir bleiben weiterhin unsicher. Deswegen wollte ich, dass auch die beiden im Film immer noch alles hinterfrag­en. Kate fragt sich plötzlich grundsätzl­ich, wer sie ist, was ihre Beziehung ausmacht, und wohl auch, wer sie sein möchte.

Für mich war es logisch, sie so zu schreiben, wie ich selbst mich in dieser Situation verhalten würde. Wenn wir ältere Leute ansehen, vergessen wir manchmal, dass sie auch jung waren. Wir können sie doch nicht einfach nur als alte Leute wahrnehmen, die irgendwie niedlich und witzig sind, das passiert viel zu oft im Kino. SN: Sie haben hier zwei Schauspiel­ikonen vor der Kamera, mit deren Filmen Sie vermutlich selbst aufgewachs­en sind, und die deutlich die Spuren der Zeit im Gesicht tragen. Hatten Sie auch im Kopf, dass sogar die Sixties irgendwann alt werden? Genau, sogar die Sechzigerj­ahre werden altmodisch. Die Filme von damals, in denen die beiden mitgespiel­t haben, sind so voller Vitalität! Und wenn wir sie heute anschauen, stimmt uns das melancholi­sch, denn für die meisten Leute wird das Leben ja doch nicht so, wie sie sich das wünschen. Das fand ich in diesem Film so spannend an der Idee der tiefgefror­enen Person aus der Vergangenh­eit: Diese Frau hat ihr Leben nicht gelebt, sie musste keine Kompromiss­e machen, keine Enttäuschu­ngen erleben. All diese Dinge, die das Leben durchschni­ttlich machen, hat sie nicht durchgemac­ht.

Und im Kontrast zu ihr wird erst deutlich, wie enttäusche­nd die Gegenwart geworden ist.

Film:

„Wir bleiben ein Leben lang unsicher.“

Filmstarts der Woche

 ?? BILD: SN/FILMLADEN/AGATHA A. NITECKA ?? Preisgekrö­nt bei der Berlinale: Charlotte Rampling und Tom Courtenay.
BILD: SN/FILMLADEN/AGATHA A. NITECKA Preisgekrö­nt bei der Berlinale: Charlotte Rampling und Tom Courtenay.
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