Der Fremde in der eigenen Wohnung
Wenn die Vergangenheit das Glück einholt: Zwei Filmikonen ergründen in „45 Years“die späte Krise eines altvertrauten Paares.
Szenen einer Ehe: Kate und Jeff sind ein Bilderbuchpaar, demnächst steht das 45. Hochzeitsjubiläum bevor. Da bekommt Jeff einen Brief: Die Leiche einer Frau wurde gefunden, die Jahrzehnte früher in eine Gletscherspalte gestürzt war. Wer war sie und was hatte sie mit ihm zu tun? „Unaufrichtigkeit zu Beginn prägt, wie die Liebe danach funktioniert“, sagt der britische Regisseur Andrew Haigh im Interview. Sein Film „45 Years“brachte den Hauptdarstellern Tom Courtenay und Charlotte Rampling in Berlin die silbernen Schauspielbären, nun kommt der Film ins Kino. SN: Ihr Erstlingsfilm „Weekend“handelte davon, ob aus einer Begegnung etwas Ernstes wird. Hier schaut jemand zurück auf 45 Jahre einer glücklichen, aber vielleicht nicht ehrlichen Beziehung. Haben die beiden Filme miteinander zu tun? Haigh: Ich sehe die beiden als Geschwisterfilme. Eine Beziehung wird stark dadurch geprägt, was in der Zeit des Kennenlernens pas- siert. Was in diesen ersten Wochen und Monaten geschieht, diktiert nach meiner Erfahrung mit, was im Laufe der ganzen Beziehung passieren wird. In „Weekend“sind die bei- den zu Beginn sehr ehrlich miteinander, und obwohl aus dieser Beziehung letztlich nichts wird, ist es doch für beide eine wesentliche Erfahrung. Das Paar in „45 Years“hingegen war am Anfang der Ehe nicht ganz aufrichtig zueinander, und das hat die gesamte jahrzehntelange Beziehung beeinflusst. SN: Kate stellt die ganze Ehe infrage, als sie von Jeffs früheren Bekannten erfährt. Wie hätte er reagiert, hätte umgekehrt sie ihm ihre Vergangenheit verschwiegen? Darüber habe ich nicht nachgedacht. Mir war wichtig, dass sie die zentrale Figur innerhalb dieser Geschichte bleibt. Es gibt so viele Filme und Bücher, die sich mit der existenziellen Krise eines Mannes befassen, jeder einzelne Roman von Philip Roth handelt davon. Aber aus weiblicher Sicht gibt es da erstaunlich wenig, vor allem in den Kinofilmen. Insofern war es für mich viel spannender, eine Frauenperspektive zu untersuchen, anstatt eine weitere Männerkrise zu erzählen, und noch mehr verletzte Männergefühle zu erforschen. SN: Sie sind erst 42 Jahre alt, „45 Years“hat aber eine anrührende, sehr intime Bettszene unter Menschen Ihrer Elterngeneration. Haben Sie dafür eine Inspirationsquelle? Manches stammt aus der zugrunde liegenden Kurzgeschichte, aber vor allem war mein Gedanke: Ich kann mir nicht vorstellen, dass Leute in ihren Sechzigern und Siebzigern fundamental anders sind als Leute in ihren Dreißigern oder Vierzigern. Ich glaube nicht daran, dass wir an unserem 27. Geburtstag plötzlich denken: „Oh, jetzt versteh ich alles!“Das ist doch nicht wahr, wir bleiben weiterhin unsicher. Deswegen wollte ich, dass auch die beiden im Film immer noch alles hinterfragen. Kate fragt sich plötzlich grundsätzlich, wer sie ist, was ihre Beziehung ausmacht, und wohl auch, wer sie sein möchte.
Für mich war es logisch, sie so zu schreiben, wie ich selbst mich in dieser Situation verhalten würde. Wenn wir ältere Leute ansehen, vergessen wir manchmal, dass sie auch jung waren. Wir können sie doch nicht einfach nur als alte Leute wahrnehmen, die irgendwie niedlich und witzig sind, das passiert viel zu oft im Kino. SN: Sie haben hier zwei Schauspielikonen vor der Kamera, mit deren Filmen Sie vermutlich selbst aufgewachsen sind, und die deutlich die Spuren der Zeit im Gesicht tragen. Hatten Sie auch im Kopf, dass sogar die Sixties irgendwann alt werden? Genau, sogar die Sechzigerjahre werden altmodisch. Die Filme von damals, in denen die beiden mitgespielt haben, sind so voller Vitalität! Und wenn wir sie heute anschauen, stimmt uns das melancholisch, denn für die meisten Leute wird das Leben ja doch nicht so, wie sie sich das wünschen. Das fand ich in diesem Film so spannend an der Idee der tiefgefrorenen Person aus der Vergangenheit: Diese Frau hat ihr Leben nicht gelebt, sie musste keine Kompromisse machen, keine Enttäuschungen erleben. All diese Dinge, die das Leben durchschnittlich machen, hat sie nicht durchgemacht.
Und im Kontrast zu ihr wird erst deutlich, wie enttäuschend die Gegenwart geworden ist.
Film:
„Wir bleiben ein Leben lang unsicher.“
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