„Wir sind in steter Gefahr“
Der Bischof harrt bei seiner Gemeinde aus. Die einstige syrische Millionenstadt Aleppo ist einer der Brennpunkte des Krieges in Syrien.
Antoine Audo (69) wurde in Aleppo geboren. Seit 1992 ist er Bischof der chaldäisch-katholischen Gemeinde in der einstigen Millionenstadt. Audo ist Jesuit und studierte in Rom, Damaskus und Paris. Er nimmt in Salzburg an einer Tagung der Initiative Christlicher Orient und Pro Oriente zum Thema „Christen und Muslime“teil. Die SN sprachen mit ihm über Flucht und Vertreibung und Chancen auf Frieden. SN: Wie ist die Lage in Aleppo? Audo: Seit mehr als zwei Jahren wird es immer schlimmer. Das größte Problem ist, dass wir in steter Gefahr leben. Es sind fünf Fronten um die Stadt, es wird überall angegriffen, jeden Tag. Die Stadt wird unter Feuer genommen. Es ist fürchterlich. SN: Wie viele Bewohner gibt es denn noch? Die Stadt selbst ohne Umland hatte einst 2,5 Millionen Einwohner. Ich kann jetzt nur von den Christen sprechen, aber das kann als Vergleich gelten. Wir waren 150.000. Jetzt sind wir allerhöchstens 50.000. Der Rest ist gegangen. Einige bleiben im Land, sie gehen nach Tartus oder Latakia, wo auch Christen wohnen. Wer Geld hat, geht nach Beirut. Viele junge Familien verlassen aber jetzt die Region, weil es hier immer gefährlicher wird und auch wegen der allgemeinen Not. Sie sehen diese Familien ja in Österreich und Deutschland. SN: Droht Lebensgefahr in Aleppo? Ja, wir sind immer mit dem Tod konfrontiert. Wir können bei Bombenangriffen sterben, bei Schießereien. Seit fünf Jahren warten wir und sagen uns jeden Tag, dass es vielleicht nächste Woche, nächsten Monat besser wird. SN: Nun sieht es so aus, als würde Russland militärisch intervenieren und Assad stützen. Aus unserer Sicht ist es eine Hoffnung. Vielleicht ist es Russland möglich, eine politische Lösung zu finden. Wenn die USA und Russland einig sind, werden alle anderen folgen. Das zumindest höre ich manchmal. SN: Ist eine Zukunft mit Assad denkbar? Kann er an der Macht bleiben? Darüber müssen wir mit sehr vielen Nuancen sprechen. Ich respektiere den Standpunkt der Europäer, die sagen, Assad ist ein Diktator und Mörder. Aber wir müssen diesen Krieg in einem größeren Zusammenhang sehen. Assad verteidigt schon auch eine Idee von Syrien. Wir müssen eine Übergangslösung finden – erst mit Assad. Dann muss es eine Lösung mit Sunniten, Alawiten, den verschiedenen Konfessionen geben. SN: Wie überleben die Menschen in Aleppo? Gibt es Schulen? Können Sie einkaufen gehen? Unser Leben ist sehr paradox. Wir sind jede Stunde in Gefahr, doch gleichzeitig haben wir die Kraft weiterzuleben. Wir machen sogar Ausflüge. Aber unser Alltag ist sehr schwierig, wir leiden. Wir haben keinen Strom und kein Wasser. SN: Sie müssen Überlebenskünstler sein. Wir haben jetzt ein System von Dieselgeneratoren. Wenn Sie zirka drei Dollar zahlen, bekommen Sie zehn Stunden in der Woche Strom. Drei Dollar sind viel Geld für ärmere Familien. Wir haben im Bischofssitz einen eigenen Generator, um Kühlschränke zu betreiben. Ja, unser Leben ist schwierig. Es gibt aber offene Schulen in der Stadt und auch die Universität ist geöffnet, aber der Besuch ist eben mitunter lebensgefährlich. SN: Fürchten Sie die islamistischen Gruppen wie Al Nusra oder den „Islamischen Staat“? Ich bin überzeugt, dass sie das Ziel haben, Terror und Unsicherheit zu verbreiten und zu zeigen, dass die Sunniten die Stärksten sind. Sie greifen besonders Aleppo an. Es geht um den uralten Hass zwischen Sunniten und Schiiten, das sind hier bei uns die Alawiten. Wir müssen das im historischen Kontext sehen. Diesen Hass gibt es seit dem Beginn des Islams. Und der wird jetzt benutzt. SN: Vier Millionen Menschen sind aus dem Land geflohen. Hätten sie lieber bleiben sollen? Mein Wunsch als Bischof und Syrer ist, dass die Christen bleiben, um unsere Präsenz zu wahren. Wir sind ein Beispiel dafür, dass Christen im Mittleren Osten integriert sind. Es ist ein großer Verlust, wenn unsere Familien gehen. Aber gleichzeitig verstehe ich es. Es gibt junge Männer, die sind seit Jahren im Militärdienst und wissen nicht, wie lange noch. Ich respektiere und verstehe es, wenn die Menschen fliehen. SN: In Europa sehen wir desertierte syrische und kurdische Soldaten, Sunniten und Alawiten, sogar irakische Schiiten. Viele wollen nicht mehr kämpfen. Ja, die Lage ist schlimm. Es grassiert auch die Armut. Die Leute haben nichts zu essen, zu leben, keine Medikamente. Und sie wissen, dass dieser Krieg eine Möglichkeit ist, nach Europa zu gelangen. Europa hat Reichtum, Demokratie, Bildung, Gesundheitsvorsorge. Es ist anziehend. SN: Sehen Sie die Möglichkeit, dass sich eine eigene islamische Demokratie entwickeln kann? Ja, davon bin ich überzeugt. Demokratie ist für den Islam möglich. Wir sollten die Geisteswissenschaften im Islam stärken, Soziologie, Politik, Anthropologie, Psychologie. Damit es mehr Fortschritt in der Kunst des Zusammenlebens gibt. Die arabisch-islamische Tradition ist ja sehr reich. Die Phase des von der Sowjetunion unterstützten arabischen Sozialismus hat die Menschen ohne freies Denken zurückgelassen, er hat eine Leere erzeugt. Das hat sich der „Islamische Staat“zunutze gemacht. SN: Sehen Sie eine Zukunft für den IS? Nein, nein. Die Sunniten nutzen den IS, um an die Macht zu kommen, dann werden sie ihn zur Seite schieben. Der IS kann keinen Staat errichten. Er hat keine Zukunft. SN: Herr Bischof, wie sieht denn das Aleppo Ihrer Erinnerung aus? Es ist eine schöne und liebenswerte Stadt. Ich bin stolz, ein Christ aus Aleppo zu sein, der imstande ist, mit Muslimen zu leben. Ich finde das erfüllend. Ich kann Christ im Mittleren Osten und in der arabischen Kultur sein. Das ist für mich sehr wichtig. Aleppo ist Aleppo. Es ist eine uralte Stadt. Sie wird bleiben.
Öffentlicher Abendvortrag