Die Slums sind in Europa angekommen
Wie leben die in Süditalien gestrandeten Bootsflüchtlinge? Eine Ausstellung zeigt Bilder der neuen Armut in Europa.
WIEN. „Wir waren sehr schockiert, dass Menschen in Europa so leben“, stellt der Ethnologe Gilles Reckinger fest. Seit Jahren hält er sich mit Kollegen immer wieder in Kalabrien und Lampedusa auf, um zu erforschen, wie in Europa gestrandete Bootsflüchtlinge leben. Bilder davon sind seit Samstag im Volkskundemuseum in Wien ausgestellt.
Da gibt es nahe der Gemeinde Rosarno an der Zehenspitze des Stiefels eine sonderbare Stadt: Blaue Zelte sind da aufgestellt, ausgelegt für 350 Menschen. Etwa doppelt so viele leben darin. Und die anderen der hier hausenden rund 2000 Flüchtlinge haben aus Plastik, Isolierwatte und Schnüren Unterschlüpfe gebastelt: Slums in Europa.
Ein Mal pro Woche liefere die Gemeinde Wasser und pumpe die Senkgrube aus, berichtet Gilles Reckinger. Ansonsten sei die Siedlung unverwaltet. Strom gebe es keinen. Die Müllabfuhr in dem von der Mafia beherrschten Kalabrien funktioniere sowieso schlecht bis nicht.
Etwa fünfzehn Flüchtlinge haben sich in einem nahen Wald niedergelassen. Da brauchen sie keine Senkgrube, da finden sie Brennholz, und in einer nahen Fabrik dürfen sie nachts Wasser holen. Sie haben sogar eine Dusche, wie auf einem Foto zu sehen ist: Der Stamm eines Orangenbaums ist mit Plastik lose umhüllt. Ein Duschender steigt offenbar auf leere Orangenkisten, um nicht im Schlamm zu stehen.
„Bitter Oranges“heißt diese Wanderausstellung, denn viele der um Rosarno, Gioia Tauro und San Fernando lebenden Afrikaner verdingen sich als Erntehelfer – für Orangen, von denen viele (oft als „sizilianisch“markiert) in Supermärkten landen, sowie für Fenchel, Paprika und Bergamotte, jene duftstoffreiche Zitrusfrucht, die an der Küste der Stiefelspitze gedeiht; deren Öl aromatisiert Earl-Grey-Tee.
Gilles Reckinger schildert die Ankunft so: Aus Lampedusa werden die Flüchtlinge aufs Festland in 13 Lager verbracht, das größte in Kalabrien. Dort dürfen sie aber während des Asylverfahrens nicht bleiben. Ohne Papiere, ohne Geld werden sie entlassen und kommen erst zurück, um ihre Bescheide zu holen – für Asyl, subsidiären Aufenthalt oder Abschiebung. Ein Abgeschobener werde zu keiner Grenze und keinem Flugzeug gebracht. „Abschiebung ist der Freibrief für Illegalität.“
Zur Erntearbeit stellt der Ethnologe unverblümt fest: dass „Formen moderner Sklaverei in Europa existieren“. Maximal 25 Euro verdiene ein Orangenpflücker pro Tag, davon müsse er fünf Euro als „Taxigebühr“für den Transport mit etwa 30 anderen im Fond eines Lieferwagens zahlen. Weil mehr Flüchtlinge da sind, als Erntehelfer gebraucht werden, „arbeitet niemand mehr als zehn Mal im Monat“, und das nur zur Ernte von November bis März.
Was ist im Sommer? „Es herrscht zwar kein Hunger“, sagt Gilles Reckinger. „Aber die Leute sind immer hungrig, sie essen nur alle zwei bis drei Tage“– wie etwa Solomon, auf einem der Fotos zu sehen. Hager und zäh wirkt er in seinem gelben T-Shirt. Doch hat er es schwer: „Er ist Anfang 40, er ist nicht mehr so leistungsfähig“, erzählte der Ethnologe. Solomon müsse wie viele andere in den Slums um Rosarno ausharren. Fast alle hätten ihm versichert: Nie zuvor in Afrika hätten sie so leben müssen. Obwohl viele wollten, könnten sie nicht zurück. In Lampedusa würden alle Boote konfisziert. Sich zu Fuß in den Norden aufzumachen sei illusorisch: Ein Schwarzer in Italien werde von jeder Polizeikontrolle erfasst.
„Wenn wir so tun, als wäre die Flüchtlingskrise jetzt ausgebrochen, dann ist das eine Lüge“, resümiert Gilles Reckinger. Seit zwanzig Jahren kämen Flüchtlinge zu Tausenden in Lampedusa an.
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