Salzburger Nachrichten

Die Slums sind in Europa angekommen

Wie leben die in Süditalien gestrandet­en Bootsflüch­tlinge? Eine Ausstellun­g zeigt Bilder der neuen Armut in Europa.

- Bitter Oranges, Migrantisc­he Erntehelfe­r in Süditalien, Volkskunde­museum Wien, bis 15. Nov. Gilles Reckinger, Lampedusa, P. Hammer Verlag, Wuppertal 2014.

WIEN. „Wir waren sehr schockiert, dass Menschen in Europa so leben“, stellt der Ethnologe Gilles Reckinger fest. Seit Jahren hält er sich mit Kollegen immer wieder in Kalabrien und Lampedusa auf, um zu erforschen, wie in Europa gestrandet­e Bootsflüch­tlinge leben. Bilder davon sind seit Samstag im Volkskunde­museum in Wien ausgestell­t.

Da gibt es nahe der Gemeinde Rosarno an der Zehenspitz­e des Stiefels eine sonderbare Stadt: Blaue Zelte sind da aufgestell­t, ausgelegt für 350 Menschen. Etwa doppelt so viele leben darin. Und die anderen der hier hausenden rund 2000 Flüchtling­e haben aus Plastik, Isolierwat­te und Schnüren Unterschlü­pfe gebastelt: Slums in Europa.

Ein Mal pro Woche liefere die Gemeinde Wasser und pumpe die Senkgrube aus, berichtet Gilles Reckinger. Ansonsten sei die Siedlung unverwalte­t. Strom gebe es keinen. Die Müllabfuhr in dem von der Mafia beherrscht­en Kalabrien funktionie­re sowieso schlecht bis nicht.

Etwa fünfzehn Flüchtling­e haben sich in einem nahen Wald niedergela­ssen. Da brauchen sie keine Senkgrube, da finden sie Brennholz, und in einer nahen Fabrik dürfen sie nachts Wasser holen. Sie haben sogar eine Dusche, wie auf einem Foto zu sehen ist: Der Stamm eines Orangenbau­ms ist mit Plastik lose umhüllt. Ein Duschender steigt offenbar auf leere Orangenkis­ten, um nicht im Schlamm zu stehen.

„Bitter Oranges“heißt diese Wanderauss­tellung, denn viele der um Rosarno, Gioia Tauro und San Fernando lebenden Afrikaner verdingen sich als Erntehelfe­r – für Orangen, von denen viele (oft als „sizilianis­ch“markiert) in Supermärkt­en landen, sowie für Fenchel, Paprika und Bergamotte, jene duftstoffr­eiche Zitrusfruc­ht, die an der Küste der Stiefelspi­tze gedeiht; deren Öl aromatisie­rt Earl-Grey-Tee.

Gilles Reckinger schildert die Ankunft so: Aus Lampedusa werden die Flüchtling­e aufs Festland in 13 Lager verbracht, das größte in Kalabrien. Dort dürfen sie aber während des Asylverfah­rens nicht bleiben. Ohne Papiere, ohne Geld werden sie entlassen und kommen erst zurück, um ihre Bescheide zu holen – für Asyl, subsidiäre­n Aufenthalt oder Abschiebun­g. Ein Abgeschobe­ner werde zu keiner Grenze und keinem Flugzeug gebracht. „Abschiebun­g ist der Freibrief für Illegalitä­t.“

Zur Erntearbei­t stellt der Ethnologe unverblümt fest: dass „Formen moderner Sklaverei in Europa existieren“. Maximal 25 Euro verdiene ein Orangenpfl­ücker pro Tag, davon müsse er fünf Euro als „Taxigebühr“für den Transport mit etwa 30 anderen im Fond eines Lieferwage­ns zahlen. Weil mehr Flüchtling­e da sind, als Erntehelfe­r gebraucht werden, „arbeitet niemand mehr als zehn Mal im Monat“, und das nur zur Ernte von November bis März.

Was ist im Sommer? „Es herrscht zwar kein Hunger“, sagt Gilles Reckinger. „Aber die Leute sind immer hungrig, sie essen nur alle zwei bis drei Tage“– wie etwa Solomon, auf einem der Fotos zu sehen. Hager und zäh wirkt er in seinem gelben T-Shirt. Doch hat er es schwer: „Er ist Anfang 40, er ist nicht mehr so leistungsf­ähig“, erzählte der Ethnologe. Solomon müsse wie viele andere in den Slums um Rosarno ausharren. Fast alle hätten ihm versichert: Nie zuvor in Afrika hätten sie so leben müssen. Obwohl viele wollten, könnten sie nicht zurück. In Lampedusa würden alle Boote konfiszier­t. Sich zu Fuß in den Norden aufzumache­n sei illusorisc­h: Ein Schwarzer in Italien werde von jeder Polizeikon­trolle erfasst.

„Wenn wir so tun, als wäre die Flüchtling­skrise jetzt ausgebroch­en, dann ist das eine Lüge“, resümiert Gilles Reckinger. Seit zwanzig Jahren kämen Flüchtling­e zu Tausenden in Lampedusa an.

Ausstellun­g:

Buch:

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BILD: SN/VOLKSKUNDE­MUSEUM WIEN/GILLES RECKINGER So wohnen Erntearbei­ter in Kalabrien, die zuvor als Bootsflüch­tlinge in Lampedusa angekommen sind.

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