Die Grenzen von Haut und Lust austesten
Intimes Gruppenkuscheln, ein forderndes Mehrspartenkunstwerk und böse Buben am Eröffnungswochenende des steirischen herbstes.
GRAZ. Lustschreitherapie? Ein Reenactment der Vorgänge auf der einst von Otto Muehl mit absolutistischer Dominanz angeführten Friedrichshof-Kommune? Eine Party, die aufgrund welcher Drogen auch immer, entglitten ist? Laute Stöhngeräusche hallen im Grazer Dom im Berg, wo zwölf nackte Leiber über Sofas und Tische gleiten, sich sinnlich an Grünpflanzen reiben oder einfach Gruppenkuscheln betreiben.
„7 Pleasures“heißt das Stück der dänischen Choreografin Mette Ingvartsen, das am Eröffnungswochenende des steirischen herbstes uraufgeführt wurde. Gezeigt werden sieben Ansichten zum Thema körperliches Vergnügen. Die Akteure sitzen erst im Publikum, entkleiden sich und verschmelzen auf der Bühne zu einem skulpturalen Geflecht der Nacktheit. Lautlos und wie in Zeitlupe bilden sich immer wieder neue Konstellationen, Haut, Haare, Geschlechtsorgane und die in den Körpern sichtbar werdenden Knochen erinnern massiv an die Kreatürlichkeit des Menschen. In unterschiedlichen Bewegungsfolgen geht es Ingvartsen um die Beantwortung folgender Frage: „Wie kann die lustvolle Kraft des Vergnügens genutzt werden, um Klischeebilder rund um Nacktheit und Sexualität aufzubrechen?“Sanft vibrierend oder wild ekstatisch: Das Betrachten der sich stets verändernden, andeutungsreichen Formationen hat nur bedingt mit Voyeurismus zu tun. Der Abend wird zu einem eindringlichen Appell, die eigene Körperlichkeit nicht zu verdrängen und über neue Formen des (fleischlichen) Vergnügens nachzudenken.
Eröffnet wurde der steirische herbst mit einer weiteren Uraufführung, die Literatur, Musiktheater und Film einte: „Specter of the Gardenia oder Der Tag wird kommen“. Der Text stammt vom sprachmächtigen Heimatarchäologen Josef Winkler, die Musik vom Komponisten Johannes Maria Staud. In der installativen Konzertperformance agiert Johannes Silberschneider als Akteur, der das expressive Winkler’sche Klagelied über Eros, Katholizismus und Tod mit Vitalität erfüllt. Unter der Regie von Sophia Simitzis ist Silberschneider ein rescher Publikumsbeschimpfer („Ihr Weichmachergesellschaft, ihr Aufpasser unserer Tragödie“) und ein poetischer Chronist längst vergangener Kindheitstage. Kein Abend der Wagnisse oder Innovationen, entbehrlich die Filmebene, dennoch tut dieses Bekenntnis zu einem fordernden, den Mythos Avantgarde beschwörenden Mehrspartenkunstwerk gut: viel Applaus für den Monolog, zu dem Winkler durch eine Büste des Surrealisten Marcel Jean inspiriert wurde.
Neues aus Altem kreieren auch Die Buben im Pelz, die im Grazer Kunsthaus zur Velvet-Underground-Gedächtnisfeier luden. Die hehren Songs der Popavantgardeklassiker ins Wienerische übertragen? Darf man denn das? Ja, freilich. „Und wenn die Welt in Oasch geht, sagst du, ciao, ciao, hey hey, baba“, singen die bösen Buben. Wien darf ruhig New York werden.