Das Duell Wales gegen England spaltete die königliche Familie
Ihre Gesichter sind fahl, die Augen gerötet und die meisten von ihnen sind ganz in Schwarz gekleidet. Doch die 50 Menschen, die sich in einem Pub in Christchurch eingefunden haben, sind keine Trauergäste. Sie sind Neuseeländer. Und das bedeutet momentan, an einem Montagmorgen um drei Uhr nachts aufzustehen, um die „All Blacks“bei der Rugby-WM in Großbritannien spielen zu sehen.
Es gibt mehrere Mannschaften, die für sich reklamieren, ein Land zu vereinen. Die „All Blacks“haben das nicht nötig, weil es offensichtlich ist. Weil man die amtierenden Weltmeister trotz ihrer Bedeutung schon seit Jahren nur im Pay-TV oder in der Kneipe zu sehen bekommt, sah sich die neuseeländische Regierung sogar zu einer Gesetzesänderung gezwungen. Für Bars, die die WM-Spiele live übertragen, wird die Sperrstunde aufgehoben. Ein Kneipier hat ausgerechnet, dass sein Pub an manchen Tagen 23 Stunden am Stück geöffnet sein wird. Kritiker befürchten, dass die WM so zu einem Saufexzess verkommt und die häusliche Gewalt noch weiter steigt, doch ihre Stimmen werden überhört.
Rugby ist Down Under schließlich eine nationale Angelegenheit. Das zeigt sich nicht nur daran, dass der WM-Kader im Parlament bekannt gegeben wurde, sondern auch daran, dass die Rugbymannschaft der Abgeordneten auf Sponsorenkosten für zwei Wochen nach Großbritannien reist. Dass auch zwei Minister dabei sind und dafür auf Parlamentssitzungen verzichten, hat keine große Empörung ausgelöst. Schließlich gehört es für Premierminister John Key zum guten Ton, sich regelmäßig nach den Spielen in der Kabine der „All Blacks“einzufinden und gemeinsam mit seinem Sohn Max wie ein Groupie Erinnerungsfotos zu schießen.
Rugby ist in Neuseeland seit jeher größer als Politik, und das liegt nicht zuletzt an den Erfolgen der „All Blacks“. Sie prägen den Sport wie kein anderes Team, was auch darin zum Ausdruck kommt, dass acht von 20 WM-Teilnehmern einen neuseeländischen Trainer haben und dass die Japaner, die zum Auftakt Südafrika sensationell schlugen, gleich sechs gebürtige Kiwis in ihren Reihen haben. Sie haben sich zu einer globalen Sportmarke entwickelt. Und sie haben ihrem mit Minderwertigkeitskomplexen behafteten Heimatland das Gefühl vermittelt, doch nicht vollkommen bedeutungslos zu sein.
Das inspirierte Key, ein Referendum anzuschieben, mit dem nächstes Jahr über die Nationalflagge entschieden wird. Der Premierminister will die Fahne mit dem Union Jack der alten Kolonialmacht Großbritannien ersetzen, zumal sie nicht selten mit der Flagge des Nachbarn Australien verwechselt wird.
Key ist der Überzeugung, dass eine Flagge sofort wiedererkennbar sein sollte. Und er hat sich schon früh auf sein Wunschmotiv festgelegt: Es ist der Silberfarn, den auch die „All Blacks“tragen. Dass es sich dabei eher um den Markenkern neuseeländischer Unternehmen als um das identitätsstiftende Symbol einer Nation handelt, übersieht er. Kritiker werfen ihm zudem vor, dass er eine künstliche Debatte über Neuseeland und seine Werte angestoßen hat.
Tatsächlich geht es in der Flaggenfrage weniger um Inhalte und Werte Neuseelands, sondern vielmehr um die politische Macht John Keys. Der Premierminister hat eine Diskussion entfacht, die wesentlich wichtigere Themen überlagert: die Mit beherztem Kampf hat die verletzungsgeplagte RugbyNationalmannschaft aus Wales dem WM-Gastgeber England einen Schock versetzt. Vor 82.000 Zuschauern in London gab das Team von Trainer Stuart Lancaster am Samstagabend das Gruppenspiel nach der Halbzeit noch aus der Hand und verlor 25:28 (16:9).
Damit muss England nach der ersten Niederlage im zweiten Immobilienblase in Auckland, die wirtschaftlichen Sorgen, die mit einer großen Nähe zu China verbunden sind, und auch das blamable Auftreten in der Flüchtlingsfrage, das darin mündete, in den kommenden drei Jahren widerwillig 600 (!) zusätzliche Flüchtlinge aufzunehmen.
Doch Key bekommt Gegenwind für sein Referendum, das rund 26 Millionen Neuseeland-Dollar (rund 15 Millionen Euro) kostet. Überraschenderweise kommt der nicht nur von seinen viereinhalb Millionen Landsleuten, die das Ganze zum Großteil für eine Geldverschwendung halten, sondern auch vom neuseeländischen Rugbyverband. Der hat sicherheitshalber schon mal darauf hingewiesen, dass Match um den Einzug ins Viertelfinale bangen. In der stark besetzten Gruppe A wird ein Sieg gegen Australien Pflicht sein, um noch einen der ersten beiden Plätze zu erreichen. Wales hat gute Aussichten auf die K.-o.-Runde. „Der Sieg bedeutet sehr viel. Für mich persönlich und für die Spieler“, sagte WalesCoach Warren Gatland. Auf der Tribüne im Londoner Rugby-Tempel Twickenham unterstütz- sein Silberfarn-Logo markenrechtlich geschützt ist.
Schließlich sind die „All Blacks“eine gewaltige Marketingmaschine. So drohten sie zwischenzeitlich, gar nicht erst bei der laufenden WM anzutreten, wenn die Verbände nicht besser für ihre Teilnahme entlohnt werden. Das ist bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass Rugby bis 1995 als reiner Amateursport galt. Doch es ist verständlich: Die Veranstalter der WM in England werden Einnahmen in Höhe von rund 545 Millionen Euro generieren und damit die Entwicklung zu einer lupenreinen Kommerzveranstaltung abschließen.
Und die „All Blacks“brauchen Geld, um ihren Status zu bewahren. Denn zum Schutz der heimischen te Prinz Harry im englischen Trikot mit dem Rosen-Emblem die Gastgeber, daneben feuerten Prinz William und Herzogin Kate den vermeintlichen Außenseiter aus Wales lautstark an. Das im Vorfeld heiß diskutierte britische Duell bei der WM hat das gesamte Königreich in seinen Bann gezogen und sogar die königliche Familie gespalten. Unter den Fans der Waliser fanden sich außerdem Prominente wie David Hasselhoff und Tom Jones. Liga bestehen sie darauf, keine Legionäre einzusetzen. Einige Spieler erliegen zwar dem Ruf des Geldes aus Europa, doch die meisten Stars bleiben noch in der Heimat, um sich das Trikot der „All Blacks“überzustreifen – und die geringeren Gehälter mit privaten Werbeverträgen auszugleichen.
Bei all dem Kult um das Team sollte eines nicht vergessen werden: Ebenso legendär wie ihr Kriegstanz, der Haka, den sie vor jedem Spiel aufführen, ist ihre Unfähigkeit, den Titel fern der Heimat zu holen. Zwei Mal haben sie ihn in Auckland gewonnen, sechs Mal sind sie anderswo als Favorit vorzeitig gescheitert. Diesen Bann wollen sie nun brechen und zugleich das erste Team werden, das seinen Titel verteidigt und sich zum dritten Mal die Krone aufsetzt. Vorsorglich stellt Trainer Steve Hansen klar, dass seine Mannschaft nicht mehr viel mit den Weltmeistern von 2011 gemein hat. Schließlich stehen 17 Akteure im 31Mann-Kader, die damals nicht dabei waren. Und Hansen selbst war nur Assistenzcoach. Deshalb sagt er: „Wir wollen den Titel nicht verteidigen, weil er uns nicht gehört. Wir wollen ihn gewinnen.“
Ihre Hoffnungen ruhen dabei auf Altstar Richie McCaw, der nach dem Turnier vermutlich sein Karriereende verkünden wird. Doch bis dahin will er seinen Landsleuten noch einige schlaflose Nächte bescheren.