Brüssel übt harsche Kritik an der Türkei
Die EU-Kommission spricht in einem Bericht zu den Beitrittsverhandlungen von „signifikanten Rückschritten“.
EU-Kommissar Johannes Hahn hatte es gestern, Dienstag, eilig. Gleich nach der Pressekonferenz in Brüssel, wo er einen lang erwarteten Bericht zur Türkei vorgestellt hatte, flog er mit Frans Timmermans, dem Vizepräsident der Kommission, nach Ankara. Die beiden sollten die Details des gemeinsamen Aktionsplans zwischen der EU und der Türkei für die Bewältigung der Flüchtlingskrise aushandeln. Ankara gilt der EU derzeit als wichtigster Partner, um die Bewegungen in die EU zu kontrollieren. In dieser Gesprächsrunde werde es nun darum gehen, „Daten und Meilensteine zu fixieren, wann die EU oder die Türkei liefern müssen“, kündigte Hahn an.
Im Gepäck hatten die EU-Vertreter am Dienstag aber keine guten Nachrichten. Der Bericht zu den Fortschritten in den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei geht hart mit dem Partner ins Gericht. Positiv wird fast ausschließlich die wirtschaftliche Lage im Nachbarland erwähnt. Die Rede ist von einer funktionierenden Marktwirtschaft, die dem Wettbewerbsdruck in der EU gewachsen ist. Ansonsten stellt der Bericht einen „generell negativen Trend in Hinblick auf Rechtstaatlichkeit und Grundrechte“fest. Die Kommission sieht deutliche Mängel sowohl bei der Justiz als auch bei der Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Bei Letztgenanntem gebe es sogar „signifikante Rückschritte“. Im Bericht wird die „ernsthafte Sorge“über die anhaltenden neuen Strafverfolgungen gegen Journalisten, Autoren und Nutzer sozialer Medien genannt. Auch die Aktionen der türkischen Behörden zur Einschränkung der Medienfreiheit werden angeprangert. Kritik gibt es zudem daran, dass die Friedensgespräche mit den Kurden zum Stillstand gekommen sind. Diese müssten dringend wieder aufgenommen werden, zuletzt habe es in dem Bereich noch positive Entwicklungen gegeben.
Das alles seien „natürlich Probleme beim Beitrittsprozess“, stellte Hahn klar. Die Beitrittsverhandlungen seien aber der beste Hebel, um Dinge zu verändern. Das gilt nicht nur für die Türkei, sondern auch für die Beitrittsländer auf dem Balkan, wie Mazedonien, Montenegro und Serbien. Die Grundrechte seien in allen diesen Ländern zwar gesetzlich verankert, hieß es aus der Kommission, in der Praxis seien aber nach wie vor Defizite festzustellen. Als weiteres Beispiel nannte Hahn die Korruption. Auch dagegen gebe es bereits Gesetze, sie würden aber nicht ausreichend umgesetzt.
Die Kommission stellt jährlich die Fortschrittsberichte der Kandidatenländer vor. Heuer gab es eine Verzögerung, eigentlich war die Präsentation vor den Wahlen in der Türkei geplant. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker warte auf den geeigneten Zeitpunkt, an dem der Bericht die notwendige mediale Aufmerksamkeit erhalte, erklärte die Kommission. Die Vermutung lag aber nahe, dass die EU den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, den man derzeit so dringend als Partner braucht, nicht verärgern wollte. Die deutsche EU-Abgeordnete Rebecca Harms kritisierte daher die Verzögerung am Dienstag bei einer Debatte im Parlament scharf. Es sei „unverantwortlich, dass die EU-Kommission diesen Bericht bis nach den Wahlen in der Türkei zurückgehalten hat“. Hahn wies die Kritik zurück. Die Substanz des Berichts zeige, dass die Einschätzung der Kommission unabhängig von Wahlen sei.
„Das sind natürlich Probleme.“