Riesen erzählen Europas Geschichte
Zerzauste Zirben, stattliche Eichen, mächtige Linden: Die ältesten Lebewesen auf diesem Kontinent können viel erzählen.
WIEN. Eine 100 Jahre alte Buche mit einer ausladenden Krone von 120 Quadratmetern hat mehr als 600.000 Blätter. Das ist eine Blattfläche von 1200 Quadratmetern. Diese Buche gibt im Jahr 4,5 Tonnen Sauerstoff ab und entzieht dabei der Luft sechs Tonnen Kohlendioxid. Gleichzeitig filtert sie eine Tonne Feinstaub und andere Schadstoffe aus der Luft. Sie verdunstet täglich 400 Liter Wasser.
Und – das sei nur nebenbei erwähnt – diese Buche schenkt uns täglich ihren prächtigen Anblick und ihren Schatten. Hätte der Mensch nicht ab dem frühen Mittelalter aus Europas Urwäldern Kulturwälder gemacht, um sie zu nutzen, wären Buchenwälder wahrscheinlich die beherrschende Waldstruktur Europas.
Das und vieles mehr findet man in dem naturwissenschaftlich-poetischen Fotobuch „Baumwelten“von Conrad Amber. Der Vorarlberger Naturfotograf machte es sich zur Aufgabe, in jahrelangen Reisen durch Europa alte Baumriesen aufzuspüren und ins Bild zu bringen. Er wolle ihnen damit ein Denkmal setzen, sagt er. In seinen Arbeiten schält er die Ursprünglichkeit der Bäume heraus und befreit sie von jedem zivilisatorischen Ballast. Sie stehen in seinen mehr als 650 Fotografien als Lebewesen vor uns. Mit ihrem unerschütterlichen Überlebenswillen, der sie oft mehr als tausend Jahre alt werden lässt.
Amber sagt: „Fotografie ist Ausdruck meines Blickes auf Wiesen und Wälder und der Kultur des Alpenraums.“Schon als Bub spazierte er in seinem Heimatort gern durch eine Allee mit alten Kastanien, Eschen und Linden. Eines Tages war die Allee weg. Ersetzt durch eine verbreiterte Straße. Bis heute hat er diesen Baumweg nicht vergessen. Und sein Verlust war ein wichtiger Grund, warum Conrad Amber überhaupt zu „Bruder Baum“fand. Die Hektik der heutigen Zeit, das Oberflächliche und der ungesunde Lebensstil endeten dort, wo der Wald beginne, meint Amber.
Europas Baumriesen nehmen sich im Vergleich zu ihren Freunden auf anderen Kontinenten eher bescheiden aus. Der wahrscheinlich höchste Baum Europas steht mit 63 Metern im Freiburger Stadtwald. Es ist eine Douglasie. Dafür stehen auf dem Kontinent die vermutlich ältesten Eichen, Linden und Lärchen. In Südtirol zum Beispiel steht eine Lärche, die 1000 Jahre alt ist. In Blumau in der Steiermark lebt eine 700 Jahre alte Eiche. Und in Kreuth bei Sankt Ulrich in Kärnten war es dem Fotografen Amber fast unmöglich, mit dem Bauern unter einer 700 Jahre alten Linde ein Gespräch zu führen. So sehr summten Tausende Bienen im Blätterdach des noch im August in Blüte stehenden 18 Meter hohen Baums. Und durch einen Hohlraum im eigenartig geformten, wuchtigen Stamm einer 500 Jahre alten Fichte in Arriach, ebenfalls in Kärnten, kann ein zehnjähriges Kind schlüpfen. „Der Wald hilft, der zu sein, der man ist“, sagt Conrad Amber. Wir meinen, dieses Buch könnte die Beziehung zum Wald für immer verändern. Conrad Amber: