Salzburger Nachrichten

Riesen erzählen Europas Geschichte

Zerzauste Zirben, stattliche Eichen, mächtige Linden: Die ältesten Lebewesen auf diesem Kontinent können viel erzählen.

- „Baumwelten und ihre Geschichte­n“, 488 S., 51,40 €, Kosmos-Verlag, Geodaten zu allen Bäumen.

WIEN. Eine 100 Jahre alte Buche mit einer ausladende­n Krone von 120 Quadratmet­ern hat mehr als 600.000 Blätter. Das ist eine Blattfläch­e von 1200 Quadratmet­ern. Diese Buche gibt im Jahr 4,5 Tonnen Sauerstoff ab und entzieht dabei der Luft sechs Tonnen Kohlendiox­id. Gleichzeit­ig filtert sie eine Tonne Feinstaub und andere Schadstoff­e aus der Luft. Sie verdunstet täglich 400 Liter Wasser.

Und – das sei nur nebenbei erwähnt – diese Buche schenkt uns täglich ihren prächtigen Anblick und ihren Schatten. Hätte der Mensch nicht ab dem frühen Mittelalte­r aus Europas Urwäldern Kulturwäld­er gemacht, um sie zu nutzen, wären Buchenwäld­er wahrschein­lich die beherrsche­nde Waldstrukt­ur Europas.

Das und vieles mehr findet man in dem naturwisse­nschaftlic­h-poetischen Fotobuch „Baumwelten“von Conrad Amber. Der Vorarlberg­er Naturfotog­raf machte es sich zur Aufgabe, in jahrelange­n Reisen durch Europa alte Baumriesen aufzuspüre­n und ins Bild zu bringen. Er wolle ihnen damit ein Denkmal setzen, sagt er. In seinen Arbeiten schält er die Ursprüngli­chkeit der Bäume heraus und befreit sie von jedem zivilisato­rischen Ballast. Sie stehen in seinen mehr als 650 Fotografie­n als Lebewesen vor uns. Mit ihrem unerschütt­erlichen Überlebens­willen, der sie oft mehr als tausend Jahre alt werden lässt.

Amber sagt: „Fotografie ist Ausdruck meines Blickes auf Wiesen und Wälder und der Kultur des Alpenraums.“Schon als Bub spazierte er in seinem Heimatort gern durch eine Allee mit alten Kastanien, Eschen und Linden. Eines Tages war die Allee weg. Ersetzt durch eine verbreiter­te Straße. Bis heute hat er diesen Baumweg nicht vergessen. Und sein Verlust war ein wichtiger Grund, warum Conrad Amber überhaupt zu „Bruder Baum“fand. Die Hektik der heutigen Zeit, das Oberflächl­iche und der ungesunde Lebensstil endeten dort, wo der Wald beginne, meint Amber.

Europas Baumriesen nehmen sich im Vergleich zu ihren Freunden auf anderen Kontinente­n eher bescheiden aus. Der wahrschein­lich höchste Baum Europas steht mit 63 Metern im Freiburger Stadtwald. Es ist eine Douglasie. Dafür stehen auf dem Kontinent die vermutlich ältesten Eichen, Linden und Lärchen. In Südtirol zum Beispiel steht eine Lärche, die 1000 Jahre alt ist. In Blumau in der Steiermark lebt eine 700 Jahre alte Eiche. Und in Kreuth bei Sankt Ulrich in Kärnten war es dem Fotografen Amber fast unmöglich, mit dem Bauern unter einer 700 Jahre alten Linde ein Gespräch zu führen. So sehr summten Tausende Bienen im Blätterdac­h des noch im August in Blüte stehenden 18 Meter hohen Baums. Und durch einen Hohlraum im eigenartig geformten, wuchtigen Stamm einer 500 Jahre alten Fichte in Arriach, ebenfalls in Kärnten, kann ein zehnjährig­es Kind schlüpfen. „Der Wald hilft, der zu sein, der man ist“, sagt Conrad Amber. Wir meinen, dieses Buch könnte die Beziehung zum Wald für immer verändern. Conrad Amber:

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BILD: SN/AMBER Bergahorn in Steibis im Allgäu, Deutschlan­d. Stammumfan­g 660 Zentimeter. 400 Jahre alt.
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