Das große Fressen
CHRISTINE SONVILLA
Möwen kreischen und tanzen durch die Luft. Immer wieder stoßen sie nach unten, um fischige Überreste aufzuschnappen. Dazwischen tauchen Buckelwale mit weit geöffnetem Maul auf und Orcas lassen ihre langen Rückenfinnen aufblitzen, ehe sie erneut unter Wasser verschwinden. Was sie hier tun? Fressen! 2010 bemerkten Fischer entlang der nordnorwegischen Küste erstmals, dass sich Orcas und Buckelwale vermehrt blicken ließen. Seither besuchen diese in den Wintermonaten, gemeinsam mit Finnwalen, regelmäßig die Insel Senja.
Die zweitgrößte Insel Norwegens liegt etwa 350 Kilometer nördlich des Polarkreises, weiter im Norden als die berühmteren Lofoten und Vesterålen. Vom Breitengrad her, möchte man meinen, müsse es im Winter fröstelnd kalt sein. Die „Golfstrom-Heizung“wirkt aber auch hier noch, weshalb die Temperaturen selten unter minus zehn Grad Celsius fallen. Die hohen Berge und schroffen Felsen, die wuchtigen Fjorde und die hörbare Stille Senjas sind etwas für Naturliebhaber und Individualreisende. Denn touristisch ist die Insel kaum erschlossen, es gibt nur wenige Unterkünfte und Nahversorger. Restaurants und gemütliche Cafés wird man vergeblich suchen.
Senja ist eben noch eine echte Fischerinsel. In Dörfern wie Husøy und Senjahopen – die übrigens erst Mitte der 1980erJahre durch Tunnel an das Straßennetz angeschlossen wurden – werden nach wie vor große Mengen an Dorsch, Heilbutt und mittlerweile auch Hering gefangen. Dieser hat in den vergangenen Jahren seine Zugrouten verändert, weshalb sich die Fischernetze vor Senja nun mit Zigtausend Tonnen Heringen füllen. Und auch bei den Walen ist dieser Futterüberfluss nicht unbemerkt geblieben. Sie ziehen den Heringen hinterher.
Dass die Buckelwale jedoch vor Ort sind, verwundert ein wenig. „Zu dieser Jahreszeit müssten sie bereits viel näher am Äquator sein, wo die Jungen zur Welt kommen. Auch ist es unwahrscheinlich, dass sie erst im Februar dorthin aufbrechen“, sagt Meeresbiologin Daniela Numberger. Sie mutmaßt, dass es sich bei den Buckelwalen vor Hamn i Senja deshalb entweder um Mütter mit Jungtieren oder um junge Männchen handelt, die noch nicht paarungsbereit seien.
Im Jänner 2015 arbeitete Numberger in Hamn i Senja, um ihr Wissen über die Meeressäuger an Walsafari-Touristen weiterzugeben. Das Apartmenthotel an der Westküste ist eines der wenigen Hotels, die es auf der Insel überhaupt gibt. Und es ist vermutlich die allererste Adresse in Europa, um Orcas zu beobachten. Zu Spitzenzeiten tummeln diese sich sogar direkt im Hamn, dem Hafen der Anlage, unmittelbar vor den Fenstern der Hotelgäste. Wie lang sie das noch tun, ist allerdings genauso schwer vorhersagbar, wie ihr plötzliches Auftreten alle überrascht hat.
Wer Orcas hautnah erleben möchte, sollte deswegen rasch handeln. Dick eingemummt in wasserabweisende Rettungsanzüge geht es dann mit dem Schnellboot hinaus auf die norwegische See, hinein in den Schärengarten vor Hamn. Vor der Kulisse türkisfarbenen Wassers und weißer Sandstrände lassen sich die „Giganten der Meere“im magischen Dämmerlicht der Polarnacht beobachten. Denn zwei Monate lang gibt es auf Senja kein direktes Sonnenlicht, nachts ist es dunkel, tagsüber dämmert es. Erst rund um den 20. Jänner blinzelt die Sonne erstmals wieder über den Horizont.
Buckelwal entdeckt! Voller Vorfreude möchte man am liebsten gleich auf ihn zusteuern, aber die Bootsführer kennen die Regeln. Ab einer Entfernung von 400 Metern gilt es den Motor auf sieben Knoten zu drosseln. Außerdem nähert man sich den Tieren nie frontal oder von hinten, sondern immer nur parallel und maximal bis auf 100 Meter. Wenn ein Wal einmal Fahrt aufnimmt, kann sowieso kein Boot mit ihm mithalten.
Sehr wohl kann es aber passieren, dass sich die Tiere von sich aus nähern oder man sich plötzlich inmitten eines Fressgelages wiederfindet. Sobald eine Gruppe von Orcas einen Heringsschwarm entdeckt, kreisen sie diesen ein und schlagen dann entweder mit ihren Fluken in den Schwarm oder senden hochfrequente Klicklaute aus, um die Fische außer Gefecht zu setzen. Angelockt von dem Festmahl treffen wenig später die Buckelwale ein, die ihrerseits die Heringe umzingeln. Sie nutzen einen Vorhang aus Luftblasen und tauchen durch diesen mit geöffnetem Maul zur Oberfläche. Und freilich sind auch die opportunistischen Möwen wieder mit von der Partie.
Den Anstoß dazu gaben die Orcas. „Sie sind hochintelligent, können Probleme lösen, kooperativ jagen und sind gleichzeitig überaus sozial gegenüber ihren Artgenossen“, sagt Daniela Numberger. Leicht zu erraten: Die Orcas sind ihre Lieblingstiere. Aber auch die Buckelwale lassen sie staunen, wenn sie sich mit 40 Tonnen Gewicht spielerisch aus dem Wasser wuchten. Das übrigens trotz karibischer Farbe polare Temperaturen aufweist. Genau richtig für den Heringsschmaus.
Seit einigen Jahren ist die Insel Senja in Nordnorwegen während der magischen Polarnacht ein Treffpunkt, um Orcas und Buckelwale beim Heringsschmaus zu
beobachten.