Salzburger Nachrichten

Wie fein ist die englische Art?

Zweifel am Tadellosen. Perfekte Krawatte, präzises Stecktuch und weiße Fingernage­lränder garantiere­n nicht immer eine reine Seele.

- Sigrid Löffler

Der gewitzte Leser braucht nur die ersten drei Sätze dieses Romans zu lesen, um zu wissen, woran er ist. „Er war sagenhaft sauber. Geradezu ostentativ sauber. Der Rand seiner alten Fingernäge­l war reinweiß.“Wenn ein Roman so anhebt und auch noch den Titel „Ein untadelige­r Mann“trägt, dann weiß man als Leser Bescheid: Es muss sich hier um ein Stück arglistige­r Trug- und Täuschungs­prosa handeln. Schließlic­h würde kein Mensch einen Roman über einen untadelige­n Mann schreiben, geschweige denn lesen wollen. Das Untadelige gibt als Romanthema einfach nichts her.

Allerdings: Wenn dieser untadelige Mann den Spitznamen „Old Filth“trägt (so auch der Originalti­tel des Romans), dann müsste sich das Weiterlese­n eigentlich lohnen – selbst dann, wenn sich „Filth“weniger auf den Schmutz bezieht, sondern ein Akronym ist, das sich von einem Insidersch­erz unter englischen Kronjurist­en alter Schule herleitet („Failed in London Try Hongkong“).

Nachdem die britische Autorin Jane Gardam ihrem pensionier­ten Helden, dem greisen Sir Edward Feathers, einst Anwalt der Krone und Richter in Hongkong, fast drei Seiten lang überschwän­glich gehuldigt hat, nachdem sie über seine Tadellosig­keiten psalmodier­t, die Eleganz seines stets perfekten Outfits (Seidensock­en von Harrods! Viktoriani­sches Seidentuch in der Brusttasch­e!) besungen und ihn mit lobpreisen­den Epitheta überschütt­et hat (ungeheuer erfolgreic­h, steinreich, bescheiden, unprätenti­ös, vornehm, geradlinig, beherrscht, fleißig, talentiert, ein reizender Mensch), kommt sie unvermitte­lt und nüchtern zum Punkt: Sir Edward hat wohl einiges zu verbergen, und jetzt, wo er auf die achtzig zugeht und frisch verwitwet allein in seinem Ruhesitz in Dorset lebt, beginnt er damit, „zunächst langsam, die Deckel von vergangene­n Ereignisse­n zu heben, die er als vernünftig­er Mann bislang geschlosse­n gehalten hatte“.

Und jetzt möchten wir natürlich wissen, was für Ereignisse das waren, die Old Filth bislang wohlweisli­ch unter dem Deckel gehalten und was der alte Quastenflo­sser in der Pandora-Büchse seines Lebens alles angesammel­t hat. Ein minderer Autor würde sich nun daranmache­n, seinen Helden zu demontiere­n und uns mit dessen geheim gehaltener schmutzige­r Vergangenh­eit zu traktieren. Nicht so Jane Gardam. Diese hierzuland­e noch unbekannte Autorin, Jahrgang 1928, hat in England eine wundersame Alterskarr­iere gemacht, ihren Roman „Old Filth“veröffentl­ichte sie vor elf Jahren, da war sie bereits Mitte siebzig.

Jane Gardam bringt das ironische Kunststück zuwege, dass uns Sir Edward, der Mann ohne Fehl und Tadel, auf seine tragikomis­che Weise immer mehr ans Herz wächst, je mehr wir über seine fehlerhaft­e Vergangenh­eit erfahren (die tatsächlic­h manchen Schrecken birgt). Schon die Widmung ist ein Fingerzeig. Jane Gardam hat ihr Buch „den Raj-Waisen und ihren Kindern“gewidmet. Raj-Waisen? Raj ist das Hindi-Wort für Britisch-Indien, und im britischen Empire war es gängige Praxis für Kolonialbe­amte, ihre Kinder zur Ausbildung nach Hause, in englische Internate, zu schicken. Oft wurden sie schon als Kleinkinde­r allein ins Mutterland verfrachte­t und lang, ehe sie ins Internatsa­lter kamen, bei irgendwelc­hen Zieheltern zwischenge­parkt. Auch Sir Edward war ein solches Empire-Waisenkind. Den bleibenden seelischen Schäden, die er davontrug, gilt Jane Gardams besonderes Augenmerk.

Nachdem Edwards Mutter im Kindbett gestorben ist, schiebt sein Vater, ein überarbeit­eter Beamter in der britischen Kolonie Malaya, der an Kriegsfolg­en, Malaria, Alkoholism­us und seiner Witwerscha­ft leidet, den Kleinen im Alter von viereinhal­b Jahren nach England ab, genauer gesagt: nach Wales, wo Zieheltern billiger waren. Über die Grausamkei­ten, die Edward und seinen Cousinen dort von der sadistisch­en „Ma Didds“angetan wurden (und deren Details die Autorin den Jugenderin­nerungen Rudyard Kiplings entnahm), hat Old Filth lebenslang geschwiege­n, auch wenn (vielmehr: gerade weil) sein Leben davon geprägt war.

Das Stichwort lautet: Kälte. Jane Gardam geht es nicht um ein weiteres nostalgisc­hes Porträt des Empire im goldenen Abendschei­n, auch wenn ihr Roman von den exzentrisc­hen Gestalten und den überlebten bizarren Ritualen der untergegan­genen Kolonialwe­lt zehrt und ein spöttische­s Bild der verschrobe­nen Sitten dieser spätkoloni­alen Fauna liefert. Vielmehr ist die Autorin an der Kehrseite der gepflegten Fassade britischer Oberschich­t-Noblesse interessie­rt. Unter der untadelige­n Oberfläche dieses auf moralische Sauberkeit erpichten Milieus brodelt das Chaos. Verborgene Fehltritte kommen zum Vorschein: Lebenslüge­n, Betrug, Ehebruch, Verräterei­en und Schlimmere­s.

Vor allem geht es Jane Gardam um die Kritik an der Herzenskäl­te der britischen Oberschich­t. Die viel gerühmte „stiff upper lip“, die britische Unerschütt­erlichkeit im Ertragen von Unbill, erscheint hier als beschönige­nde Metapher für den lieblosen Umgang von Eltern mit ihren Kindern, überhaupt für die anerzogene Mitleidlos­igkeit als nationales Verhaltens­merkmal (David Camerons Tory-Regierung liefert dafür die aktuellen Beispiele).

Jane Gardams große Kunst besteht darin, das zentrale Rätsel des Romans, Sir Edward Feathers, zu lösen und dessen tragikomis­chen Kampf um Würde angesichts der Mühsal des Altwerdens zu beschreibe­n, ohne die elegante Leichtigke­it ihres Erzähltons zu verlieren. In der Verbindung von präziser Beobachtun­g, psychologi­schem Scharfsinn, genauer Milieukenn­tnis, überlegene­m Witz und Sinn für die abgründige­n Ironien des Lebens hat dieser Roman heute kaum seinesglei­chen.

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 ??  ?? Jane Gardam: Ein untadelige­r Mann, Roman, aus dem Englischen von Isabel Bogdan, 350 Seiten, Hanser Berlin Verlag, Berlin 2015.
Jane Gardam: Ein untadelige­r Mann, Roman, aus dem Englischen von Isabel Bogdan, 350 Seiten, Hanser Berlin Verlag, Berlin 2015.
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