Baumängel sind „normal“
Kaum ein Bauherr bleibt von Mängeln verschont. In den vergangenen Jahren ist die Zahl der Baumängel weiter gestiegen. Die Bauwirtschaft weist dagegen auf die Individualität beim Bauen hin.
Experten mit einem geübten Blick sehen meist schon von Weitem, wenn am Bau etwas schiefläuft. Betroffen sind oft auch Privatpersonen, denn wer hat nicht schon ganz persönliche Erfahrungen mit Handwerker-Reklamationen gemacht? Der subjektive Eindruck, dass im Bauhandwerk wenig exakt gearbeitet wird, wurde nun empirisch bestätigt. Das Beratungsunternehmen Kreutzer Fischer & Partner Consulting (KFP) hat insgesamt 476 Bauvorhaben des Jahres 2015 (196 Neubauund 280 Renovierungsprojekte) einem Qualitätscheck unterzogen. „Das Ergebnis ist für die Branche kein Ruhmesblatt“, heißt es in der Analyse. In praktisch allen Neubauprojekten (99 Prozent) musste vor und/oder nach Bauabnahme in zumindest einem Gewerk ein Mangel behoben werden. Bei Renovierungsprojekten musste bei mehr als zwei Drittel aller Bauvorhaben nachgebessert werden. Insgesamt wurde bei 70 Prozent aller untersuchten Bauprojekte zumindest ein Baumangel gefunden.
„Von handwerklicher Ehre ist da nicht mehr viel übrig“, kritisiert Andreas Kreutzer, Geschäftsführer von KFP. Und das Schlimmste dabei ist, dass der Anteil der Bauvorhaben mit Baumängeln wächst. In einer Vergleichserhebung aus dem Jahr 2008 lag der Anteil der Projekte mit zumindest einem Baumangel noch bei 65 Prozent.
Die Gründe für die mangelnde Bauqualität sind laut KFP vielfältig: Zum einen sinken die Vorgabezeiten aufgrund des steigenden Preis- und Kostendrucks, ohne dass im Gegenzug der Maschineneinsatz oder die Vorfertigung im gleichen Ausmaß wachsen. Auf der Baustelle muss immer schneller gearbeitet werden. Zum anderen herrscht immer öfter ein Mangel an qualifiziertem Personal.
Besonders schlimm ist die Situation in Ostösterreich, allen voran in Wien. Während in der Bundeshauptstadt bei 83 Prozent (plus acht Prozentpunkte gegenüber 2008) aller Bauvorhaben Baumängel diagnostiziert wurden, waren es in Tirol und Vorarlberg „nur“62 Prozent (plus zwei Prozentpunkte). In Wien wurden 40 Prozent aller Baumängel als schwer klassifiziert, im Westen waren es 26 Prozent. Die meisten Mängel wurden im Innenausbau, also bei Trockenbau, Anstreichern, Fliesenlegern etc. identifiziert (47 Prozent). Dahinter liegen bereits die Installateure (38 Prozent) vor den Baumeistern (34 Prozent).
„Bei privaten Bauvorhaben erweist sich die Mängelanzeige oftmals als schwieriges Unterfangen, insbesondere bei leichten Baumängeln“, sagt Kreutzer: „Sehr rasch wird hier vom Professionisten das Argument vom unwesentlichen Mangel ins Treffen geführt.“Da eine gerichtliche Auseinandersetzung in der Regel nicht ohne langwierige Sachverständigen-Gutachten vonstattengeht, scheuen viele Bauherren vor rechtlichen Schritten zurück. „Dies wird vom Auftragnehmer auch manchmal bewusst einkalkuliert.“
Besorgniserregend ist die Situation im Wohnungsneubau. Bei nahezu achtzig Prozent aller untersuchten Bauprojekte musste in mehr als drei Gewerken nachgebessert werden. Im Vergleich zu industriell erzeugten Produkten ein konkurrenzlos schlechter Wert. „Man stelle sich nur mal vor, man holt einen Neuwagen vom Händler ab und kann mit fast 80-prozentiger Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass zumindest drei Mängel reklamiert werden müssen“, rechnet Kreutzer vor. Die Bauwirtschaft kontert diesem Argument mit der Individualität des Bauens und dem hohen Anteil handwerklicher Arbeit. „Doch dieses Argument ist nicht schlüssig, denn Handarbeit steht gewöhnlich als Synonym für höchste Qualität“, sagt Kreutzer. Nur am Bau versuche man damit Unzulänglichkeiten zu erklären. „Wenn der vergleichsweise hohe Anteil an handwerklicher Arbeit die hohe Mängelquote erklärt, so ist dies ein Argument mehr, den Wohnbau so rasch wie möglich auf industrielle Fertigung umzustellen.“