Demokratie gibt es nicht zum Nulltarif
Wir dürfen uns die bürgerlichen Freiheiten weder wegbomben noch wegadministrieren lassen.
Offene Gesellschaft oder Überwachungsstaat?
Bei den Silvesterfeiern in Brüssel, München, Wien und etlichen anderen Orten der Welt war diesmal die Angst ein gar nicht so unsichtbarer Gast. Die Angst manifestierte sich in einem erhöhten Aufgebot an Sicherheitskräften und in den Terrorwarnungen, die die Behörden ausgesprochen hatten. Die Angst manifestierte sich in geräumten Plätzen, gesperrten Bahnhöfen, abgesagten Feuerwerken. Die Angst vor dem Terror legte einen Schleier über die Feiern, und sie droht einen Schleier über unser Leben zu legen.
Es ist ein unerträglicher Gedanke, dass die Menschen nicht mehr auf öffentlichen Plätzen feiern, sich nicht mehr versammeln, keinem Konzert mehr lauschen können ohne Angst, bei diesem harmlosen Vergnügen einen sinnlosen und gewaltsamen Tod zu sterben. Und rasch ist die Diagnose gestellt, dass unsere Welt ein gefahrvoller Ort geworden ist. Doch in Wahrheit ist sie das immer schon gewesen. Auch unsere kleine Welt in Österreich. Zwar geben wir uns gern der frommen Lebenslüge hin, dass wir aufgrund der friedliebenden Politik unseres Landes kein Zielland des Terrorismus sind. Doch das ist heute falsch, und es ist immer schon falsch gewesen, wie ein Blick zurück beweist. Man erinnere sich an den Überfall auf einen Eisenbahnzug mit jüdischen Auswanderern aus der Sowjetunion samt Geiselnahme durch ein arabisches Kommando 1973. Man erinnere sich an den blutigen Überfall samt Geiselnahme auf die OPEC-Konferenz 1975. Man erinnere sich an die Er- mordung des Wiener Stadtrats Heinz Nittel 1981 durch arabische Terroristen. Oder an den Überfall auf die Synagoge in der Wiener Seitenstettengasse im selben Jahr, bei dem zwei Menschen ermordet und etliche verletzt wurden. Man erinnere sich an den Überfall auf den Schalter der israelischen Fluglinie El Al 1985 in Schwechat und an die Toten, die damals in ihrem Blut lagen. Man erinnere sich an die Briefund Rohrbombenserie, die in den Neunzigerjahren Österreich erschütterte. Man erinnere sich an 1980, als wir den Terror nicht direkt in Österreich erlebten, aber dafür in nächster Nachbarschaft: Auf dem Münchner Oktoberfest riss eine Bombe 13 Menschen in den Tod, auf dem Bahnhof von Bologna tötete ein Sprengsatz 85 Menschen. Es gab keine heile Welt – niemals. Die Terrorgefahr, die diese Weihnachtsund Neujahrsfeiern überschattet hat, ist nicht neu. Wir halten sie nur für neu, weil wir Menschen Meister im Verdrängen und Vergessen sind.
Da es gegen den Terror keinen wirklichen Schutz gibt, liegt der Schluss nahe, dass unsere Gesellschaft, unsere Demokratie verletzlich sind. Das ist richtig – und auch wieder nicht. Denn Österreich ist trotz des Terrors, den auch unser Land in den vergangenen Jahrzehnten erleben musste, eine offene, demokratische Gesellschaft geblieben. Ebenso wie Deutschland und Italien, die in den Siebzigerjahren von einer Welle des blutigen Terrors erschüttert wurden, offene und demokratische Gesellschaften geblieben sind. Die Demokratie ist eine stabilere Regierungsform, als viele Skeptiker und Weltuntergangspropheten wahrhaben wollen.
Die stabile Demokratie ist freilich nicht zum Nulltarif zu haben. Sie ist an unsere Bereitschaft geknüpft, sie täglich aufs Neue zu erringen. So wie wir uns unsere Grundwerte nicht von den Terroristen wegbomben lassen wollen, dürfen wir sie uns auch nicht von den Regierenden in Brüssel, Wien und Washington wegadministrieren lassen. Wegadministrieren von Regierenden, die unter dem Mäntelchen der Terrorbekämpfung gleich auch unsere wesentlichsten Freiheitsrechte bekämpfen. Die unsere Kommunikation noch stärker überwachen, unsere Redefreiheit noch stärker einschränken, unsere Mobilität noch stärker unterbinden wollen. Es liegt an uns, ob wir in unserer westlichen Welt eine offene Gesellschaft bleiben, offen auch für andere Lebensentwürfe, andere Meinungen, andere Religionen. Oder ob wir im Fremden, im Anderen vorwiegend die Bedrohung sehen. Es liegt an uns, ob wir ein Überwachungsstaat werden oder eine Gesellschaft bleiben wollen, die die Privatsphäre und die Individualität hochhält. Es wäre ein Irrtum zu glauben, dass ein autoritärer Staat die Terrorgefahr bannen kann: Bomben, das hat die Geschichte tausendfach erwiesen, können auch in einer Diktatur geworfen werden. Sicherheit und Freiheit sind keine Gegensätze. Sie bedingen einander.