Israel muss um seine Demokratie kämpfen
Die Drohungen des IS gegen den Judenstaat klingen schlimmer, als sie sind. Die größte Herausforderung für Israels Fortbestand kommt aus einer ganz anderen Richtung.
„Glaubt nicht, dass wir euch vergessen haben“, hieß es in der Rede, mit der Abu Bakr al-Baghdadi, Anführer der Terrormiliz IS, sich auch an Israel wandte. „Wir kommen euch Tag für Tag näher“, drohte er. Palästina werde „euer Grab sein“. Das klingt unheilvoll. Doch dürfte das Getöse niemanden überrascht oder gar beunruhigt haben. Der größten Militärmacht im Nahen Osten kann selbst die reichste Terrororganisation der Welt nicht viel anhaben. Dennoch: Al-Baghdadis Tirade zeugt von der neuartigen Bedrohung, der sich Israel gegenübersieht.
Israels Ex-Verteidigungsminister Ehud Barak soll auf die Reporterfrage nach der Sicherheitslage einmal knapp geantwortet haben: „Gut.“Der pikierte Journalist hakte nach: Ob der Minister nicht ein wenig ausführlicher antworten könne? „Nicht gut“, sagte daraufhin Barak.
Was widersprüchlich klingt, ist eine treffende Zusammenfassung der strategischen Lage Israels. Zum einen ist sie besser denn je. Der größte Albtraum israelischer Militärs – ein konventioneller Mehrfrontenkrieg gegen gut gerüstete arabische Armeen – existiert nicht mehr. Syriens Armee ist aufgerieben, das Militär des Irak kann nicht einmal den IS besiegen, Jordaniens Militär ist keine ernsthafte Bedrohung. Die Armee des Libanon könnte wohl nicht einmal Israels Polizei besiegen, Ägyptens Armee ringt um die Kontrolle über das eigene Land. Doch in anderer Hinsicht ist Israel gefährdeter denn je. Die libanesische Hisbollah allein verfügt über mehr als 150.000 Raketen. Eine Miliz, die sich der Vernichtung Israels verschrieben hat, kann jeden Punkt im Land treffen. Die Hamas ist zwar weitaus schwächer, verfügt aber ebenfalls über Tausende Geschosse. Nun will auch der IS mitmischen. Diese bisherigen Verteidigungsstrategien Israels sind obsolet. Die Grenzsicherung beruhte auf Abschreckung und schneller Kriegsführung. Arabische Potentaten wussten, dass jede Verletzung israelischer Souveränität hart geahndet wird. Israel trug den Kampf ins Territorium des Feindes, um ihn dort zu gewinnen. Gegenüber starken Herrschern funktionierte das. Doch die „Arabellion“macht Abschreckung ineffektiv. Sie funktioniert nur, solange ein Regime Verantwortung für die eigene Bevölkerung wahrnimmt und Infrastruktur errichtet. Wer regieren will, braucht Straßen, Brücken, Ministerien, Fabriken, Polizeistationen und Kasernen – Einrichtungen, die man aus der Luft zerstören kann. Doch eine Organisation wie den IS kümmert das nicht.
Noch gefährlicher ist der neue Mikroterror, der Israel neuerdings erschüttert. Das Gedankengut des IS, gekoppelt mit der Hoffnungslosigkeit in den palästinensischen Gebieten, hat eine neue Intifada geboren. Israels Geheimdienste sind machtlos gegen Einzeltäter, die sich spontan zu ihrer Tat entscheiden. Wie einen Mörder stoppen, der auf dem Weg zur Arbeit plötzlich kehrtmacht, einen Schraubenzieher kauft und Juden ersticht? Oder sein Auto in eine tödliche Waffe verwandelt und jüdische Passanten überfährt? Die Gefahr dieses Mikroterrors liegt nicht im Blutzoll, den er einfordert. Der Straßenverkehr ist tödlicher als palästinensische Attentate. Wirklich verheerend ist sein Einfluss auf Israels Demokratie. Die zweite Intifada zerbombte den Friedensprozess und Israels Friedenslager. Sprengsätze in Bussen und Diskotheken ließen viele an der Möglichkeit einer Einigung mit den Palästinensern zweifeln, weil sie nicht die Besatzung, sondern Israels Existenz per se angriffen. Die neue, dritte Intifada verschärft diesen Trend: Sie stellt jede Form des Zusammenlebens von Arabern und Juden infrage, nährt eine Radikalisierung, die Kritik immer weniger duldet. Was vor 20 Jahren mit der Ermordung Jitzchak Rabins als Randerscheinung verurteilt wurde, ist vielerorts salonfähig geworden. Menschenrechtler werden von Ultrarechten zu Verrätern abgestempelt, Journalisten angefeindet. Hass hat den Weg ins Establishment gefunden. Der Anteil der jüdischen Extremisten wächst. Ihre Übergriffe lassen liberal gesinnten Israelis kalte Schauer über den Rücken laufen.
Israels Zukunft wird nicht auf dem Schlachtfeld entschieden. Sein Überlebenskampf, so erkennen inzwischen selbst Hardliner wie Siedlerführer und Bildungsminister Naftali Bennett, wird in Schulen, Büchern und Synagogen ausgetragen. Hier wird sich entscheiden, ob der Staat zu einer religiös geprägten Ethnokratie mit totalitären Anflügen wird, die keinen Bestand haben kann, oder ob Israel eine lebensbejahende, quirlige, multikulturelle Demokratie bleibt, die weiterhin als Paradebeispiel für das Entwicklungspotenzial des Nahen Ostens dienen kann.
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