„Viele Sportler verkaufen ihre Seele“
Von einer falschen Entwicklung im Weltsport spricht Österreichs Rekordolympionike Felix Gottwald im SN-Interview. Der Vordenker im Sport kritisiert vor allem die überbordende Vermarktung der Athleten.
SN: Korruption, Doping und Betrug insgesamt haben den Sport 2015 dominiert. Ist die Ehrlichkeit verloren gegangen? Gottwald: Oder wir finden gerade wieder zur Ehrlichkeit im Sport zurück. Positiv betrachtet hat 2015 Licht in einige düstere Katakomben der Funktionärsunterwelt des internationalen Sports geworfen. Endlich! Und ohne pauschalisieren zu wollen, fürchte ich: Was wir da gesehen haben, ist a) ein Sittenbild und spielt sich b) nicht nur „bei den anderen“ab. Weil sich Identität und Integrität des Spitzensports über Jahrzehnte in der Atmosphäre von einer von Machtstreben dominierten Politik und Wirtschaft aufgelöst haben. Dieselben Leute am Ruder, vielfach dieselbe Unkultur, dieselben schädlichen Paradigmen von mehr ist besser als weniger und Gewinnmaximierung um jeden Preis. Zum Scheitern verurteilt: Die Ära der großen Macht-Macher ist vorbei. Das System Sport reinigt sich selbst von seinen Despoten. Die Chance, dass der gesunde Kern des Sports wieder wichtiger wird: Menschen zu inspirieren, für sie ein Angebot zu sein, wie körperliche Gesundheit und Herzensbildung zusammengehen können. SN: Hat der Leistungssportler seine ursprüngliche Motivation abgelegt? Anfänglich, als Kind, wollen alle Sportler nur das tun, was ihnen am liebsten ist: Sport betreiben. Das ist ihre ursprüngliche Motivation. Die Frage ist dann, wie viel erhalten sich Athleten davon, wenn sie im Sportsystem sind und es plötzlich um so viele andere Dinge geht. Ich habe meine Karriere 2007 beendet, weil ich im Kopf müde geworden war. Und die Auszeit danach sehr genossen. Selbst erwählt Pause machen können ist ja etwas komplett anderes, als verletzungsbedingt Pause machen müssen. Tina Maze hat gesagt: Jetzt brauche ich Abstand. Das braucht Mut. Es gibt Überlegungen, dass viele diesen Mut in modernen Hochleistungssystemen einfach nicht mehr finden – und ihre Auszeit dann über Verletzungen oder Krankheiten „legitimieren“. SN: Heißt das für Sie, dass die Menschlichkeit, die Berührtheit im Sport in den Hintergrund geraten ist? Wieder eine besondere Parallele zur Wirtschaft. Wenn du in modernen, erfolgreichen Unternehmen fragst, „Was berührt die Menschen bei euch am meisten?“, sind es nie Kennzahlen aus der Bilanz. Es ist immer die Qualität der menschlichen Beziehungen! Erfolgreiche Unternehmen haben das längst erkannt: Nur wenn die sogenannten weichen Faktoren stimmen, können langfristig auch die harten Fakten stimmen. Ob’s jetzt um Umsätze geht, um Weltcuppunkte, ist egal. Umgekehrt: Wer Sport sehen will und nur Prostitution im Sport präsentiert bekommt, verliert das Interesse – das Publikum duldet den Verkauf von Werbeflächen, aber nicht den Verkauf der Seele. SN: Es scheint alles wie eine Spirale zu sein. Die Gier wird im Sport mehr und dann entstehen die Gewächse wie Manipulation und Betrug. Sehen Sie das auch so? Deshalb werte ich es als ein gutes Zeichen, dass vieles im Sport, das bislang als unantastbar galt, jetzt kritisch betrachtet wird. Spitzenfunktionäre wie Blatter oder Platini in die Schranken zu weisen war früher schlicht unvorstellbar. Dieser Reinigungsprozess tut dem Sport sehr gut und geht hoffentlich weiter. Der Sport ist kein Spielplatz für Menschen mit Allmachtsfantasien – er ist im Kern etwas, von dem eine positive Kraft für alle Menschen ausgehen soll. Aksel Lund Svindal fällt mir da ein: Da höre ich so viel Freude heraus, dass er mit seinem Teamkumpel Jansrud trainieren und sich im Weltcup matchen kann. Das ist inspirierend: miteinander füreinander, Freundschaft und fairer Wettbewerb nebeneinander. Das Gleiche gilt auch für unser Fußballteam: Die spielen so gut, weil sie so gern spielen. Das spüren wir, das euphorisiert. SN: Kann diese Zeitenwende, die Aufklärung, wie Sie es nennen, den Sport wieder in die richtige Richtung bringen? Es bedarf da natürlich schon noch eines guten, ehrlichen Stück Weges. Wir, ich rede von uns Sportfans, können dem Sport einen guten Dienst erweisen, wenn wir Dinge noch kritischer hinterfragen. Etwa wenn uns verkauft wird, dass große Sportgroßveranstaltungen nicht verkauft werden. Für mich war mein Blick hinter die Kulissen der internationalen Sportbühne anlässlich der Bewerbung Salzburgs für Olympia augenöffnend: Fair Play groß auf Plakate zu schreiben macht Sinn, wenn’s auch so gelebt wird. Vielleicht wäre es überhaupt ehrlicher, wenn die sportlichen Großevents offiziell im Zuge von Auktionen an Bestbieter vergeben werden würden!? SN: Sie prangern also eine Scheinheiligkeit an. Diese doppelbödige Moral und Unechtheit schadet dem Sport. Der Reinigungsprozess, der sich in der Wirtschaft vollzieht, erreicht aber auch den Sport: Rote Karte für Alleinherrscher, die Zukunft gehört den Teamplayern. Das ist eine langsame Entwicklung, aber sie ist unaufhaltsam. SN: Die Sportwelt scheint im Großen in ihrem System festzustecken. Wie kommt der Sport aus diesen festgefahrenen – teils negativen – Strukturen heraus? Das Internationale Olympische Komitee hat beispielsweise mit den Jugendspielen schon eine Initiative gestartet, die die Kernwerte des Sports Jugendlichen gezielt vermitteln will. In wenigen Wochen finden diese Jugendspiele in Lillehammer statt. Die Norweger haben sich zuerst dagegen gewehrt, dass sich junge Sportler Olympiasieger nennen dürfen. Erst als der Fokus der Jugendspiele sich weg vom rein sportlichen Fokus hin zu den Werten des Sports verlagerte, nahmen sie sich des Projekts an. Ich habe mich auf Anfrage des IOC bereit erklärt, als Athlet Role Model mitzuarbeiten: Weil ich mir persönlich anschauen will, wie die sehr guten Ideen und Vorhaben dann auch tatsächlich umgesetzt werden. Mit den Jugendspielen besteht eine Chance, dass eine ganze Generation an Spitzensportlern lernt, Sport neu zu denken. Das wäre die Hoffnung. Athleten zu helfen, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass Sport viel mehr ist als Punkte, Meter und Sekunden und für die Aktiven immer auch schon die Vorbereitung auf das Leben nach dem Sport. SN: Welche Rolle muss der Sportler in Zukunft übernehmen? Für mich ist die eigentliche Idee, Sportler zu sein: Ich mache das, was ich wirklich tun will, zu meiner Profession. Sich dabei unter besonderen Gegebenheiten weiterzuentwickeln, Spitzensport als Lern- und Entwicklungsfeld zu sehen, das durch Teilen und Austausch von Erfahrungen ständig an Wert gewinnt: Dafür braucht es Vorbilder – Athleten und Athletinnen sind dafür prädestiniert, solche Vorbilder zu sein. Der Begriff Authentizität ist so überstrapaziert im Sport – ich denke, Echtheit trifft es besser. Das ist, was wir an charismatischen Athleten lieben: Sei, wer du bist. Sag, was du denkst. Tue, was du tun willst. SN: Wenn nur noch die Wirtschaft im Mittelpunkt steht, resultiert daraus, dass der Sportler vernachlässigt wird? Ich habe noch niemanden getroffen, der darüber verwundert gewesen wäre, dass sich die Anna Fenninger nach dem Kesseltreiben im vergangenen Sommer so schwer verletzt hat. Ja, ich weiß schon: Sie hat ihren Trainer und Physiotherapeuten und eine eigene Medienbetreuerin bekommen – nur ist halt mit dem Haben nicht immer alles abzudecken, es geht auch ums Sein, um den Menschen und seine seelischen Bedürfnisse. Mit dieser Sensibilität ist nicht gut umgegangen worden. Ein Zeichen der menschlichen Umgangskultur im Sport. Für die Anna wird es darum gehen, wieder ihre ursprüngliche Motivation zu finden. Sie hat alle Skills, um die Transformation für den Neustart zu schaffen. SN: Immer mehr Sportler machen sich Gedanken über den Tellerrand hinaus. Tina Maze wurde schon erwähnt, Gregor Schlierenzauer hat sich auch vor der Vierschanzentournee eine Pause gegönnt. Es braucht immer Mut für Entscheidungen, die nicht Mainstream sind. Hut ab vor der zumindest kurzen Auszeit zum Reflektieren, die sich Gregor genommen hat. Er ist nicht der erste Skispringer, dem es so ergeht. Denn klar ist: Skispringen und auch das Leben ist viel zu komplex, um Erfolg an technischen oder körperlichen Details festzumachen. Möglicherweise lernt Gregor in dieser Phase mehr über sich selbst als bei allen Weltcupsiegen zusammen. Es gilt auch für ihn zu hinterfragen, ob er noch immer das tut, was er wirklich tun will. – Das tut er und das spricht für seine Reife als Athlet: Er wird für sich die richtigen Entscheidungen treffen. SN: Aber Werbung im Sport ist wichtig und unerlässlich. Ohne die Sponsoren wird der Leistungssport nicht überleben können. Absolut, alles richtig und wichtig. Ich finde nur: Manchmal ist weniger mehr. Es geht um Umsetzungen, um Stil, um Takt. Ein Beispiel: Jeder von uns hat ein Handy. Aber wer hängt es sich um den Hals? Was kommt an, wenn noch einer extra ins Bild rennt, der dem Skifahrer schnell ein Handy umhängt? – Dieses plumpe Reinpressen von Werbung wirkt oft holzschnittartig. Oder: Jemand hält die ganze Zeit eine Getränkedose in der verrenkten Hand, während er ein Interview gibt. Wofür? Warum nicht auch eine Leberkässemmel? Im Kulturbereich funktioniert Sponsoring hintergründiger und auch gut. SN: Wo geht es hin? Ist das System zu retten? Meines Erachtens geht es um Rückbesinnung. Die Echtheit, das Pure, das Athletische, das Menschliche: All das muss wieder in den Fokus der Übertragungen. Der Mensch im Mittelpunkt nicht als Lippenbekenntnis, es soll eine Grundhaltung im Sport sein: Für Materialentwicklung gibt es eine eigene Abteilung, warum gibt es in Sportverbänden nur maximal Placebos, was die persönliche Entwicklung und Erweiterung von Athleten angeht? Ich glaube an die selbstregulierende Kraft von Systemen: Es wäre schön, wenn es im Sport im Großen gelänge, wieder mehr zur ursprünglichen Integrität zurückzufinden. Denn das braucht die Welt, von allem anderen gibt’s genug.
Felix Gottwald (39)