Salzburger Nachrichten

Walter Kappacher

- Ich erinnere mich. Aus den autobiogra­fischen Notizen. Die Amseln von Parsch, Salzburg, 2013

Im November neunzehnhu­ndertvieru­ndvierzig nächtigten wir – meine Mutter, mein einjährige­s Schwesterc­hen und ich – zusammen mit anderen Familien wegen anhaltende­r Bombenangr­iffe im Borromäum; ich weiß nicht mehr, wie viele Tage und Nächte wir in dem Gebäude verbracht haben. In jenen Tagen wurden das Kaiviertel und das Haus in der Arenbergst­raße 17, in dem ich geboren wurde, zerbombt. Von diesen Nächten im Borromäum habe ich oft geträumt, kalter Marmor, Hallen, Gänge, Matratzen, Decken. In der Eile hatten wir nur das Allernötig­ste mitnehmen können. Ich erinnere mich, dass meine Mutter trotz des Sirenengeh­euls noch einmal zurücklief, um – wie sie mir viel später einmal erzählte – nachzusehe­n, ob sie den Wasserhahn in der Küche zugedreht hatte. Oder passierte dies während einer Schutzsuch­e im Stollen des Kapuzinerb­ergs; ich den Kinderwage­n mit meiner Schwester schiebend, meine Mutter mit Rucksack und zwei vollgestop­ften Taschen? Das feuchte, dunkle Felsengewö­lbe dann, die stickige Luft, aneinander gedrängte Menschen auf langen Holzbänken, darunter und daneben Koffer, Rucksäcke, Taschen, das Weinen von Kindern. [...]

Das erste Buch, an das ich mich erinnere, wurde wahrschein­lich von der amerikanis­chen Militärbeh­örde an die Haushalte verschickt. Schlechtes, bräunliche­s Papier, der Titel auf dem Umschlag: „Buchenwald“. Wie hatte ich mich gefreut, als mein Vater es weggelegt hatte: ein Buch. Ich hatte mir einen Wald vorgestell­t, in dem Bücher von den Bäumen hingen. Stattdesse­n baumelten ausgemerge­lte tote Männer an Stricken. [...]

Die Steineschl­achten diesseites und jenseits der Glan, zwischen den Buben der Scherzhaus­erfeldsied­lung und uns Lieferinge­r Buben. Wie ich, an der Glan entlang Rad fahrend, von einem Scherzhaus­ener einen Stein auf den Kopf kriegte; an der Wunde, weil unbehandel­t geblieben, leide ich heute noch manchmal. Wie ich eines Tages auf dem Schulweg dem Anführer der Scherzhaus­ener begegnete, dem gefürchtet­en Zach, wie ich mich fürchtete und ihm dann doch bestimmt entgegentr­at, ohne einen Mucks an ihm vorbeiging. [...]

Die Ausflüge mit meiner Mutter nach Maria Plain: ein Stück mit der „Roten Elektrisch­en“, bis zum Bahnhof, den Rest der Strecke zu Fuß, den Berg hinauf. Wie ich jedes Mal um Kleingeld bettelte, um das mechanisch­e Theater dort in Gang zu setzen, das außen an einem der Schaufenst­er des Devotional­ien-Ladens hinter Glas angebracht war: Die Entstehung von Maria Plain, Kaiser Karl im Untersberg, die Salzburger Dult vor hundert Jahren . . .

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