Walter Kappacher
Im November neunzehnhundertvierundvierzig nächtigten wir – meine Mutter, mein einjähriges Schwesterchen und ich – zusammen mit anderen Familien wegen anhaltender Bombenangriffe im Borromäum; ich weiß nicht mehr, wie viele Tage und Nächte wir in dem Gebäude verbracht haben. In jenen Tagen wurden das Kaiviertel und das Haus in der Arenbergstraße 17, in dem ich geboren wurde, zerbombt. Von diesen Nächten im Borromäum habe ich oft geträumt, kalter Marmor, Hallen, Gänge, Matratzen, Decken. In der Eile hatten wir nur das Allernötigste mitnehmen können. Ich erinnere mich, dass meine Mutter trotz des Sirenengeheuls noch einmal zurücklief, um – wie sie mir viel später einmal erzählte – nachzusehen, ob sie den Wasserhahn in der Küche zugedreht hatte. Oder passierte dies während einer Schutzsuche im Stollen des Kapuzinerbergs; ich den Kinderwagen mit meiner Schwester schiebend, meine Mutter mit Rucksack und zwei vollgestopften Taschen? Das feuchte, dunkle Felsengewölbe dann, die stickige Luft, aneinander gedrängte Menschen auf langen Holzbänken, darunter und daneben Koffer, Rucksäcke, Taschen, das Weinen von Kindern. [...]
Das erste Buch, an das ich mich erinnere, wurde wahrscheinlich von der amerikanischen Militärbehörde an die Haushalte verschickt. Schlechtes, bräunliches Papier, der Titel auf dem Umschlag: „Buchenwald“. Wie hatte ich mich gefreut, als mein Vater es weggelegt hatte: ein Buch. Ich hatte mir einen Wald vorgestellt, in dem Bücher von den Bäumen hingen. Stattdessen baumelten ausgemergelte tote Männer an Stricken. [...]
Die Steineschlachten diesseites und jenseits der Glan, zwischen den Buben der Scherzhauserfeldsiedlung und uns Lieferinger Buben. Wie ich, an der Glan entlang Rad fahrend, von einem Scherzhausener einen Stein auf den Kopf kriegte; an der Wunde, weil unbehandelt geblieben, leide ich heute noch manchmal. Wie ich eines Tages auf dem Schulweg dem Anführer der Scherzhausener begegnete, dem gefürchteten Zach, wie ich mich fürchtete und ihm dann doch bestimmt entgegentrat, ohne einen Mucks an ihm vorbeiging. [...]
Die Ausflüge mit meiner Mutter nach Maria Plain: ein Stück mit der „Roten Elektrischen“, bis zum Bahnhof, den Rest der Strecke zu Fuß, den Berg hinauf. Wie ich jedes Mal um Kleingeld bettelte, um das mechanische Theater dort in Gang zu setzen, das außen an einem der Schaufenster des Devotionalien-Ladens hinter Glas angebracht war: Die Entstehung von Maria Plain, Kaiser Karl im Untersberg, die Salzburger Dult vor hundert Jahren . . .