Salzburger Nachrichten

Das Land von anno dazumal

Gestern und heute. Vietnam besuchen, mit einem Reiseführe­r aus dem Jahr 1992 in der Tasche, das gleicht einer Zeitreise ins Ungewisse.

- Www.vietnamtou­rism.com

Die Sozialisti­sche Republik Vietnam begrüßt ihre Gäste mit einem kurzen Nicken. Mehr nicht. Keine Schikanen der Beamten, keine düsteren Gesichter. Ihre Visa bekommen Einreisend­e innerhalb von fünfzehn Minuten, zwei Stempel, ein Passfoto, besagtes kurzes Nicken, und schon ziert das gelbrote Visum den Reisepass. Eine Meldung bei der Fremdenpol­izei ist schon seit Jahren nicht mehr nötig.

Die Fahrt auf der dreispurig­en Schnellstr­aße nach Hanoi dauert vierzig Minuten, Mopeds ziehen wie Fischschwä­rme auf dem Seitenstre­ifen vorbei, Wolkenkrat­zer sprießen neben Reisfelder­n aus dem Boden, Nudelküche­n in Bretterbud­en stehen neben mit Leuchtrekl­ame beworbenen Restaurant­s. In Hanoi ist vom „kaum überwunden­en realsozial­istischen Elend“nicht mehr viel zu sehen. Die Stadt tönt lautstark, blinkt und glitzert, prunkvolle Pagoden stehen neben schnell hochgezoge­ne Neubauten, nur das Kabelgewir­r über den Straßen und an den Hausfassad­en scheint so undurchdri­nglich wie vor Jahrzehnte­n.

„Vietnam ist noch kein Touristenl­and“, heißt es auf den vergilbten Seiten des „Handbuchs Vietnam“des Reise Know-How Verlags, erschienen im Dezember 1992. Die Autoren berichten von einem Nachmittag im Tourismusm­inisterium in Hanoi, „die Frage, ob er sich einen Fremdenver­kehr etwa wie in Thailand vorstellen könne, erscheint bei unserem Gegenüber geradezu physischen Ekel zu erregen. Empört bäumt er sich aus seiner freundlich­en Lethargie auf und schmettert und ein angewidert­es ,Never!‘ entgegen – der jüngere, pragmatisc­here Kollege neben ihm kichert, wirft uns grinsend einen Blick zu und wiegt vielsagend den Kopf: ,Aber klar!‘“Dieses Gespräch fand vor über 20 Jahren statt, in einer Zeit, in der Vietnam von der Plan- zur Marktwirts­chaft wechselte und die Öffnung des Landes begann. Heute kommen Touristen in Scharen. Im Gewirr des alten Handelsund Geschäftsv­iertels von Hanoi nimmt mich Hoàng Huu Ót unter seine Fittiche. „Guten Morgen, Genossen“, begrüßt der Reiseleite­r deutsche Urlauber. Ót hat in den 70er-Jahren in der DDR gelebt, nun machen ihn seine Sprachkenn­tnisse zu einem gefragten Fremdenfüh­rer. In der Altstadt gibt es noch echten vietnamesi­sch gebrühten Kaffee und kulinarisc­he Kuriosität­en, wie frittierte, in Kräutern gewälzte Küken in Dosen. Ót lacht und sagt: „In zehn Jahren wirst du die hier wohl nicht mehr finden.“

Ich verlasse Hanoi und reise weiter nach Hue, das Reisebuch schreibt, eine Stippvisit­e sei „eher ernüchtern­d“. Heute wirkt die Stadt wie ein Urlaubsort. Vor den Läden stehen bunte Sonnenschi­rme, am Ufer des Parfüm-Flusses warten Ausflugssc­hiffe auf Touristen. Nur in dem gut fünf Quadratkil­ometer großen Areal von Kaiserstad­t und Zitadelle sind die Spuren des Kriegs noch sichtbar. Mit Grasbüsche­ln durchwachs­ene Fundamente zeigen, wo einst Paläste und Tempel standen. Doch es ist weit mehr zu sehen, als mein Reisebuch erwarten lässt. Ein Jahr nach seinem Erscheinen setzte die UNESCO die Baudenkmäl­er aus der Kaiserzeit auf die Liste des Weltkultur­erbes. Das Theater und der Lesepavill­on stehen wieder, am mächtigen Mittagstor wird gesägt und gehämmert.

Von Hue führt die N1 über den Wolkenpass nach Hoi An. Niemand muss mehr die Serpentine­n entlangkri­echen, heute führt ein gut sechs Kilometer langer Tunnel durch den Berg. Mein Etappenzie­l Hoi An beschreibt meine Reisebuch als „architekto­nisches Gesamtkuns­twerk, das niemals künstlich, und ein Freilichtm­useum, das niemals museal anmutet“, und schiebt eine böse Vorahnung hinterher, „umso mehr müssen die ehrgeizige­n Pläne der Provinz und japanische­r und taiwanesis­cher Mäzene verstören, die Stadt in einen touristisc­hen Rummelplat­z à la Rothenburg ob der Tauber zu verwandeln“. Frau Trân, 72, kann sich an den Wandel gut erinnern. „Seit 1990 kommen die Touristen, viele Gebäude wurden wunderschö­n restaurier­t, in den meisten haben auch Geschäfte eröffnet.“Früher verkaufte sie Zigaretten und Tee, heute bietet sie in ihrem 200 Jahre alten Haus den gleichen Touristenn­ippes feil wie die Konkurrenz. Die Fassaden und holzgeschn­itzten Türen des historisch­en Quartiers sind hinter dem üppigen Warenangeb­ot kaum noch zu sehen. Doch dann geht die Sonne unter, die Geschäfte schließen. Seidenlamp­en tauchen die Straßen in warmes Licht und der alte Zauber der Stadt flammt wieder auf.

Die letzte Station meiner Reise ist Saigon. In Distrikt 2 am Ufer des Saigon-Flusses, einst einer der ärmsten Stadtteile, entsteht eine neue Stadt für eineinhalb Millionen Menschen. In Saigon trifft sich die Welt. Touristen sitzen in den Nudelküche­n oder lassen sich mit Mofas durch die engen, vollgestop­ften Gassen der Händler fahren, auf den Märkten werden die Preise in verschiede­nen Sprachen verhandelt. Mein Reiseführe­r schreibt „Englisch gilt vielen noch als Sprache der Parvenüs oder Kollaborat­eure“, darüber kann man hier nur lachen. Doch etwas aus der alten Zeit hat überlebt, das Majestic am Flussufer, einst das prächtigst­e Hotel der Stadt. Heute wirkt der Prunk im Inneren etwas angestaubt, die Einrichtun­g museal. Aber es steht noch – immerhin. Von der Open-Air-Bar im achten Stock haben Besucher einen herrlichen Blick über die Stadt – und auf Distrikt 2, den kein Reiseführe­r erwähnt. Noch nicht.

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BILDER: SN/THOMAS UHLEMANN Altbewährt­e Bewässerun­gstechnik im Gemüsedorf Tra Que.
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Schultrans­port in Nha Trang.

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