Angst vor den Semesternoten
In der vierten Klasse Volksschule entscheidet das Halbjahreszeugnis, ob ein Kind ins Gymnasium oder in die Neue Mittelschule kommt. Deshalb ist es auch so gefürchtet.
AHS-Landesschulinspektor Gunter Bittner.
Die zweifache Mutter Martina S. kann darüber nur den Kopf schütteln. „Wir reden hier von Neunjährigen, die an die AHS-Unterstufe gehen wollen, nicht von der Aufnahme an die Elite-Uni Harvard“, schimpft sie. Deshalb halte sie es auch für unmenschlich, dass hier von Kindern plötzlich eine Leistung verlangt werde, die über ihren künftigen Lebensweg entscheide. Dass ihre Kinder ins Gymnasium und nicht in die NMS gehen sollen, stehe für sie außer Frage. „Meine Kinder lernen nicht freiwillig, sondern richten sich nach dem Niveau der Klasse. Das ist an manchen NMS nicht besonders hoch“, sagt S. Wie
Franz viele Mütter wolle auch sie ihren Kindern die Möglichkeit offenhalten, später zu studieren. Dafür brauche es nun einmal die Matura.
Der sicherste Weg dahin ist, wenn ein Kind bereits die AHS-Unterstufe besucht. Das belegt auch die Bildungsstatistik.
Demnach gingen 2013/14 sechs von zehn AHS-Unterstufenschülern weiter in die Oberstufe. Drei von zehn wechselten an eine berufsbildende höhere Schule. Insgesamt blieben also neun von zehn einstigen AHS-Unterstufenschülern an einem Schultyp, der zur Matura führt. Zum Vergleich: Nur 39,3 Prozent der Hauptschüler und 45,9 Prozent der NMS-Schüler gehen weiter in die Oberstufe.
Aus Elternsicht ist es daher auch für Volksschullehrer und Gewerkschafter Anton Polivka nur verständlich und positiv, wenn sie sich darum bemühen, ihr Kind auf ein Gymnasium zu schicken. Manche gingen jedoch so weit, die Volksschullehrer zu bedrängen, zu bedrohen oder gar zu nötigen, ihnen ja einen Einser zu geben.
Das sei schon vor 18 Jahren hin und wieder vorgekommen. Polivka erzählt, dass sich Eltern einer Schülerin über ihn in seinem ersten Jahr als Volksschullehrer 1998 beschwert hätten. „Die sind bis zum Landeshauptmann gegangen, weil ich ihr einen Dreier gegeben hatte. Ohne meinen Schulleiter, der mir den Rücken freigehalten hat, wäre ich auf verlorenem Posten gestanden“, erzählt Polivka. Er glaubt, dass der Druck der Eltern auf Volksschullehrer seit damals weiter zugenommen habe, weil immer mehr Schüler ans Gymnasium anstatt in NMS und Hauptschulen drängen.
Dabei ist theoretisch genau vorgeschrieben, welche Note bei welcher Leistung zu geben ist. Die sogenannte Leistungsbeurteilungsverordnung definiert etwa, dass ein Schüler mit Sehr gut nur dann zu beurteilen ist, wenn er „merkliche Ansätze zur Eigenständigkeit“aufweist oder mit dem erworbenen Wissen auch „neuartige Aufgaben“lösen kann. Ein Einser dürfte demnach nur in Ausnahmefällen und nicht standardmäßig vergeben werden, wie das tatsächlich an Volksschulen der Fall ist.
Selbst Lehrer wie Polivka geben deshalb zu, dass Noten alles andere als gerecht sind. „Wenn in meiner Klasse lauter schwache Schüler sitzen, werde ich die nicht alle schlecht beurteilen können.“Er wäre deshalb dafür, anstatt der Zeugnisnoten der (dritten und) vierten Klasse die Schülerleistungen während der gesamten Volksschulzeit heranzuziehen, um zu beurteilen, ob ein Kind für das Gymnasium geeignet ist. „Ein Bildungsverlauf ist aussagekräftiger als eine einzige Schulnote im Semesterzeugnis, das nur über den momentanen Stand des Kindes Auskunft gibt.“
Mutter Martina S. hätte eine andere Idee. Sie wäre dafür, die Volksschule um zwei Jahre auf sechs Jahre zu verlängern. „Mit zehn Jahren ist die Entscheidung, ob ein Kind ins Gymnasium oder in die NMS kommt, einfach zu früh“, sagt sie. Mutter Astrid K. sieht das ähnlich. Sie hat sich aber für einen anderen Weg entschieden und ihren Sohn Fabian in die NMS Mattsee geschickt, um ihm den Stress in der dritten und vierten Klasse zu ersparen. „Die NMS Mattsee wird aber auch so elitär geführt wie ein Gymnasium. Ich glaube nicht, dass man das von vielen NMS sagen kann“, sagt sie.