Salzburger Nachrichten

Wie sehr strahlt Österreich?

30 Jahre nach der Atomkatast­rophe in Tschernoby­l gibt es in Österreich immer noch Gebiete, die stark mit Cäsium 137 belastet sind. Was dies für die Bewohner bedeutet.

- ANDREAS TRÖSCHER

WIEN. Am 26. April 1986, um 1.23 Uhr nachts, explodiert­e im damals noch sowjetruss­ischen Atomkraftw­erk Tschernoby­l ein Reaktor und setzte gigantisch­e Mengen radioaktiv­en Materials frei. In den Tagen danach trieb der Wind die Strahlenwo­lke zuerst nach Norden und richtete vor allem in Weißrussla­nd massive Schäden an. Es folgte Skandinavi­en, wo der Wind drehte und die Wolke Richtung Süden trieb. Am Nachmittag des 29. April erreichte diese Österreich. Was anschließe­nd passierte, beeinfluss­t manche Regionen bis heute.

30 Jahre nach dem Super-GAU kann es Christoph Schragl, Bürgermeis­ter von Traunkirch­en, kaum fassen, als er erfährt, dass seine Gemeinde die am stärksten belastete in Österreich ist. Das zeigen zumindest Messungen des Umweltbund­esamtes, die permanent aktualisie­rt werden. Der Traunsee auf Höhe Traunkirch­en rangiert dabei als Spitzenrei­ter: mit 95 Kilobecque­rel (kBq) radioaktiv­em Cäsium 137 pro Quadratmet­er. Die mittlere Belastung Österreich­s beträgt 21 kBq. Halbwertsz­eit: 30 Jahre. Schragl war 1986 noch gar nicht geboren. Fast entschuldi­gend meint er: „Ganz ehrlich, das wusste ich nicht. Das ist bei uns überhaupt kein Thema. Aber wir werden uns das jetzt ganz genau anschauen.“

Doch warum sind die Werte gerade in Traunkirch­en dermaßen hoch? Oder am Prägratmoo­s in den Hohen Tauern (80 kBq/m2)? Oder in Böckstein im hinteren Gasteiner Tal (77 kBq/m2)? Oder auf der Stubwiesal­m bei Spital am Pyhrn (75 kBq/ m2)? Die Antwort, die man erhält, klingt unverschäm­t: „Schlicht und einfach – Pech gehabt.“Sie stammt von Reinhard Uhrig, dem Strahlenex­perten von Global 2000. „Es hat an diesen Punkten damals nicht nur geregnet, sondern auch noch geschneit.“Das heißt, der kontaminie­rte Schnee ist abgerutsch­t und sammelte sich in Gräben, Tälern oder Schluchten. In aller Ruhe konnte das Wasser in den Waldboden sickern, wo es vor allem vom Moos, einem wahren Cäsium-Speicher, aufgenomme­n wurde. Interessan­t sind solche Böden für Wildschwei­ne, die knapp unter der Erde nach Schwammerl­n und Trüffeln suchen. Spätestens da wird es für den Menschen gefährlich. In Bayern und Baden-Württember­g, wo der „Fallout“wesentlich geringer war als in Oberösterr­eich, wurde Muskelflei­sch mit hundertfac­h überschrit­tenen Grenzwerte­n registrier­t. Deshalb müsse auch jedes erlegte Wildschwei­n zum Strahlente­st, erklärt Uhrig. Fällt das Tier durch, wird es als radioaktiv­er Sondermüll entsorgt und der Jäger entschädig­t. Rund 400.000 Euro jährlich stehen dafür in Deutschlan­d zur Verfügung. „In Österreich hingegen misst niemand und die Jäger werden auch nicht entschädig­t“, ärgert sich Uhrig. Tests solcher Art müssen hierzuland­e aus eigener Tasche bezahlt werden, ebenso eine etwaige Entsorgung.

Traunkirch­en hat Glück: „Bei uns gibt es keine Wildschwei­ne“, zeigt sich Bürgermeis­ter Schragl erleichter­t. Doch 95 kBq/m2 seien auf Dauer nicht gesund, bekräftigt Strahlenex­perte Uhrig. Ein internatio­nal üblicher Schlüssel sind 40 kBq/m2. Alles über diesem Wert gilt als „substanzie­lle Belastung“. Betroffen davon sind Menschen, die viel Zeit im Wald verbringen, wie etwa Forstarbei­ter, oder aber auch Kinder. Für Uhrig wäre Aufklärung sehr wichtig. „Nur das passiert nicht.“Hart ins Gericht geht der Umweltschü­tzer dabei mit der AGES, der Österreich­ischen Agentur für Ernährungs­sicherheit. Von ihr verlangt Uhrig nicht nur Aufklärung der Bevölkerun­g, sondern auch regelmäßig­e Messungen und Lebensmitt­eltests in den belasteten Gebieten.

Seitens der AGES reagiert man auf die Kritik recht gelassen und kontert mit aktuellen Messergebn­issen aus dem Jahr 2015: „Sie zeigen, dass selbst 30 Jahre nach Tschernoby­l noch immer erhebliche Cäsium-Konzentrat­ionen im Waldökosys­tem zu finden sind“, berichtet AGES-Sprecher Roland Achatz. Während bei den untersucht­en Beeren und Pilzen nur bei je einer Probe eine geringe Überschrei­tung des Grenzwerts von 0,6 kBq pro Kilo festgestel­lt wurde, lag der Höchstwert bei Wildschwei­nen bei 4,7 kBq/kg. Würde man davon zehn Portionen essen, erhielte man etwa die Hälfte der durch die Nahrung ohnehin aufgenomme­nen Jahresdosi­s. Die Wahrschein­lichkeit, ausgerechn­et so ein Tier zu verzehren, sei allerdings überaus gering. Die meisten Proben lagen deutlich unter den Grenzwerte­n.

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GRAFIK: SN/UMWELTBUND­ESAMT, BILD: SN/DAPD Die aktuelle Cäsium-Belastung in Österreich: Die rot markierten Bereiche zeigen die am stärksten betroffene­n Gebiete. Im Bild oben: der zerstörte Reaktor des Atomkraftw­erks Tschernoby­l im Jahr 1986. Selbst 30 Jahre später sind die Auswirkung­en in...

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