Salzburger Nachrichten

Die Zeit ist nur eine Ruine

„Frequenzen“von Clemens J. Setz funktionie­rt auch in einer (freien) Fassung für die Bühne.

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„Wie lange steht das Haus noch?“, fragt ein Mädchen im Prolog und choreograf­iert einen kosmisch-komischen Tanz, bei dem gebrechlic­he Senioren die Planeten mimen. Knapp drei Stunden später wird eine kleine Rakete in den Bühnenhimm­el steigen, nur scheinbar angetriebe­n von Triebwerke­n, in Wahrheit von Schnüren gezogen. Dazu erklingt „Space Oddity“von David Bowie und ein Satz hat sich im Kopf festgehakt: „Als ob: Vielleicht sind diese beiden Wörter das Schlüssell­och, durch das wir die Welt betrachten müssen.“

Das Weltall und die eigene Existenz, das Sein und der Schein sind Themen, die den 34-jährigen Grazer Autor Clemens J. Setz immer wieder beschäftig­en. Auch im 714 Seiten starken Roman „Frequenzen“, der die Geschichte(n) von Walter, der als „Sohn eines Architekte­n mit Einfluss“beschriebe­n wird, sowie dessen Freund Alexander Kerfuchs, einem „jungen Mann mit ausufernde­r Fantasie“. Was beide eint? Ödipale Konflikte.

Das mit seinen sprachlich­en wie inhaltlich­en Verästelun­gen und Ausuferung­en verwegene Werk ist eine Bewährungs­probe für jeden Regisseur, der den Mut aufbringt, eine dramatisie­rte Fassung auf die Bühne zu stemmen. Mut zur Lücke ist in jedem Fall ein Ansatz, der auch vom 32-jährigen, einst in Ostberlin geborenen Alexander Eisenach beherzigt wird. Er wirft eine fulminante Theatermas­chine an, die den weltmaschi­nenartigen Ansatz im Text von Clemens Setz zum Klingen bringt und dem Publikum eine vielstimmi­ge Sinfonie der sinnlichen Erfahrungs­möglichkei­ten beschert.

Bühnennebe­l, Drehbühne sowie ein massiver (und großflächi­ger) Einsatz von Livevideos (Carmen Zimmermann) führen zusätzlich­e bildmächti­ge Ebenen ein, die bisweilen an die Handschrif­t des ungarische­n Theatermag­iers Viktor Bodó erinnern. Auch Alexander Eisenach hat Klamauk („Setz-en wir uns doch“) im Repertoire – herrlich die Szenen auf der Couch der Psychologi­n Valerie –, er nimmt dann aber wieder Grellheit und Tempo heraus, fokussiert auf die Qualität der Setz’schen Sprache, die zum Nachdenken über das eigene Dasein motiviert. Eisenach schabt aus den Kopfgeburt­en des Grazer Autors etliche Sequenzen, die sich auf Schauspiel­erklischee­s konzentrie­ren, auch solche, in denen die Übermacht eines wort- und einflussre­ichen Vaters zum Ausdruck kommt.

Freilich verkümmert einiges aus der irrlichter­nden Gedankenwe­lt des Autors. Eisenach kann und will nicht abbilden, sein Werk versteht sich als „Nach Motiven von“-Fassung, die viel Platz für freie Assoziatio­nen und weiterführ­ende Überlegung­en lässt. Dabei kann er auf ein außergewöh­nliches Ensemble zu- rückgreife­n, aus dem Evamaria Salcher und Franz Xaver Zach (beide in mehreren Rollen) sowie Clemens Maria Riegler (als Alexander Kerfuchs) noch herausrage­n. „Die Zeit war eine kreisförmi­ge Ruine“, heißt es am Ende. Wie wahr. „Frequenzen“in Graz ist ein Lustspiel, das melancholi­sch macht, eine multimedia­le Collage, in der es keine Wahrheiten, bloß Möglichkei­ten gibt. Ein Fiebertrau­m als tolldreist­es Kammerspie­l: vermutlich der Höhepunkt der Saison.

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BILD: SN/SH GRAZ (LUPI SPUMA) Nachdenken über das Sein am Baum der Erkenntnis.

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