Viktor Orbán positioniert sich als Gegenpol zu Berlin
Kurz vor dem EU-Gipfel, auf dem Ende dieser Woche die Verteilung der Flüchtlinge erneut Hauptthema sein wird, bietet sich für Ungarns Premier Viktor Orbán eine exzellente Gelegenheit, sich als Verteidiger der „nationalen Interessen“zu profilieren. Und er weiß, dass er in Warschau, Wien oder Paris längst Unterstützer hat. „Wir werden nicht zulassen, dass unsere Frauen und Töchter von Banden angegriffen werden – oder dass Europa uns einen Maulkorb verpasst“, sagt Orbán. Deshalb solle jeder, der sich als Ungar fühle, bei der geplanten Volksabstimmung die Flüchtlingsquoten ablehnen.
Die Ungarn sollen zu einem noch nicht festgelegten Zeitpunkt darüber abstimmen, ob eine bereits im September 2015 getroffene Entscheidung des Europäischen Rats umgesetzt werden soll. Dieser hat beschlossen, 160.000 Flüchtlinge aus Griechenland und Italien innerhalb Europas nach einem Quotensystem zu verteilen. Diesen deutschen Vorschlag lehnte Budapest damals zwar ab, doch er wurde mit qualifizierter Mehrheit angenommen und ist für alle Mitgliedsstaaten verbindlich. Ungarn muss demnach nur 1294 Schutzsuchende aufnehmen.
Die meisten unabhängigen ungarischen Kommentatoren und Rechtsexperten betrachten Orbáns Initiative als verfassungswidrig. Das ungarische Grundgesetz verbietet Volksabstimmungen über die Umsetzung internationaler Verträge. Darüber muss aber letztlich das Verfassungsgericht entscheiden, das seit 2012 ausschließlich aus regierungsnahen Richtern besteht. Vertreter der linksliberalen Opposition kritisieren die millionenteure Abstimmung als Zeitund Geldverschwendung, die fremdenfeindliche Ängste schüren und von den wahren Problemen des Landes ablenken solle. Tatsächlich ist die Popularität von Orbáns Fidesz-Partei angesichts von Korruptionsskandalen und der kritischen Lage im Bildungs- und Gesundheitssystem gesunken.
Offizielle Erklärungen deuten aber darauf hin, dass Orbán mittelfristig eine europaweite „christlich-nationale“Offensive anstrebt, die einen Gegenpol zur Flüchtlings- und Europapolitik Berlins bilden soll.