Salzburger Nachrichten

Wie aus friedliche­n Protesten ein Massenmord wurde

Der Aufstand gegen das Regime von Präsident Baschar al-Assad in Syrien geht mittlerwei­le in das sechste Jahr.

- Slogan des Aufstands

„Wenn es in fünf Jahren Syrien nicht mehr gibt, wird es niemanden mehr interessie­ren, wie unser Volksaufst­and damals angefangen hatte“, sagt Kajin, der syrische Kurde, traurig. Für den im südtürkisc­hen Reyhanli lebenden Studenten begann „unsere Revolution“im syrischen Kurdistan, am 12. März 2011 in Qamischli. In der ostsyrisch­en Stadt war es während eines Fußballspi­els zu Zusammenst­ößen zwischen kurdischen Fans der Heimmannsc­haft und Anhängern der Mannschaft aus der arabischen Stadt Deir ez-Zor gekommen.

Die Polizei schoss sofort scharf. 30 Menschen, die meisten von ihnen Kurden, wurden getötet, mehr als 120 schwer verletzt. In westlichen Medien fand das Massaker wenig Beachtung. Sie konzentrie­rten sich auf die südsyrisch­e Großstadt Deraa, wo zwei Tage später Schüler regimekrit­ische Graffiti auf die Mauer ihrer Schule gesprüht hatten. Inspiriert wurden sie durch den „arabischen Frühling“, der in Ägyp- ten die jahrzehnte­lange MubarakDik­tatur beendete hatte und die Gewaltherr­scher in Libyen, Jemen und Bahrain um ihre Macht zittern ließ. Nur gegen Baschar al-Assad, so schien es zunächst, wagte niemand zu rebelliere­n. Auch die Schüler von Deraa dachten vermutlich nicht im Traum daran, dass sie einen landesweit­en Aufstand auslösen würden.

Nüchtern betrachtet waren es auch nicht die jugendlich­en Revolution­äre von Deraa, sondern die Schergen des Assad-Regimes. Sie hatten einen der Parolen-Maler gefoltert und ermordet, anschließe­nde Proteste gewaltsam aufgelöst und damit einen Kreislauf von blutiger Repression und neuen Protesten in Gang gesetzt, der nicht mehr gestoppt werden konnte. Schließlic­h kannte – und kennt – das Regime in Damaskus nur die Logik der Gewalt. Jegliche Milde oder gar Verständni­s für die berechtigt­en Reformwüns­che der Bevölkerun­g hätten als Schwäche interpreti­ert werden können.

Monatelang protestier­te die syrische Bevölkerun­g friedlich. Die Massen skandierte­n oder sangen „Aljom mafi Khof“– „Ab heute gibt es keine Angst mehr“– und verunsiche­rten die Staatsgewa­lt. Wie in Ägypten schienen auch in Syrien Armee und Polizei zunächst zu kapitulier­en, als sie die zentralsyr­ischen Städte Homs und Hama dem Volk überließen. Sie kamen jedoch mit Panzern zurück.

Was dem syrischen Volk zu Beginn seiner Revolution und auch heute noch fehlt, war ein Anführer, ein klassische­r Leader, mit dem sich die Massen hätten identifizi­eren können. Anstelle der zersplitte­rten Opposition versuchten die „arabischen Brüder“, die USA und die EU die syrische Revolution zu lenken.

Dass als Partner für den vom Westen unterstütz­ten demokratis­chen „Regime Change“in Damaskus ausgerechn­et die undemokrat­ischen Länder Saudi-Arabien und Katar gewählt wurden, spielte keine Rolle. Die Wüstenmona­rchien hatten schon lange nach Wegen gesucht, um dem Einfluss des schiitisch­en Iran entgegenzu­wirken. Assads Vater Hafes hatte sich sofort nach der islamische­n Revolution von 1979 mit Teheran verbündet. Dieser strategisc­he Schachzug sichert dem Regime in Damaskus bis heute sein Überleben. Mit dem Auftreten der arabischen Regionalmä­chte, denen sich bald die Türkei anschloss, veränderte sich die Revolution. Um der brutalen Gewalt des Assad-Regimes Paroli bieten zu können, wurde die „Freie Syrische Armee“ins Leben gerufen. Der gewünschte Effekt, nämlich der Zusammenbr­uch der regulären Streitkräf­te, blieb aus. Weder aus den USA noch aus Europa kam effektive militärisc­he Hilfe.

Um den Druck auf Damaskus zu erhöhen, stellten die Türkei und Jordanien fortan auch islamistis­chen Rebellen ihr Territoriu­m als Aufmarschg­ebiet zur Verfügung. Auch Terrorgrup­pen wie der „Islamische Staat“und der Al-Kaida-Ableger Nusra-Front wurden für den ersehnten Machtwechs­el in Damaskus instrument­alisiert.

Als das syrische Regime zu wanken begann, mobilisier­te der Verbündete Iran die Kämpfer der libanesisc­hen Hisbollah sowie schiitisch­e Milizen aus Irak und Afghanista­n. Ein iranischer General war es auch, der Wladimir Putin im Sommer 2015 angeblich von einer Interventi­on der russischen Luftwaffe überzeugte. „Seither haben wir es mit einem echten Stellvertr­eterkrieg zu tun, bei dem es nur um die Vormacht in der Region zwischen Saudi-Arabien und seinen sunnitisch­en Partnern auf der einen und dem schiitisch­en Teheran und Russland auf der anderen Seite geht“, analysiert­e der deutsche Politikexp­erte Wolfgang Ischinger unlängst die Lage.

Sträflich ignoriert werden die Interessen des Volkes. Als vergangene Woche in der von islamische­n Extremiste­n kontrollie­rten Provinz Idlib Zehntausen­de für die „Fortsetzun­g der wahren Revolution“demonstrie­rten, wurden die Protestmär­sche von der Nusra-Front aufgelöst. Sie sah eine „Provokatio­n“.

„Ab heute gibt es keine Angst mehr.“

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