Ein surrealer Streit im Kammerstaat
Wie wär’s damit, die Schuldzuweisungen einzustellen und die Wohlstandsbremsen gemeinsam zu beseitigen?
Es wirkt leicht surreal, wenn Regierung und Sozialpartner, beide unangefochtene Österreichmeister in der Disziplin des Stillstands, einander bezichtigen, am Stillstand schuld zu sein. Zur Erinnerung: Vizekanzler Reinhold Mitterlehner hat den Sozialpartnern vorgeworfen, nicht an Österreich, sondern nur an ihre Klientel zu denken. Darob große Empörung bei Kammern und Gewerkschaftsbund, und Wirtschaftskammerpräsident Christoph Leitl legte Wert auf die Feststellung, nicht die Sozialpartner, sondern die Regierung selbst sei es gewesen, die „das Werkl in den Graben gefahren“habe.
Wer hat recht? Beide. Oder keiner. Denn richtig, die Kammern und der Gewerkschaftsbund sind nicht in erster Linie dem Staatswohl verpflichtet, sie betreiben Politik vorwiegend im Sinne ihrer Mitglieder. Das ist einerseits verständlich, dazu sind sie schließlich da. Doch andererseits ist die Klientelpolitik der Sozialpartner einer der Gründe für den Stillstand, den alle beklagen. Die veraltete Gewerbeordnung ist immer noch eine Einstiegshürde für kreative Jungunternehmer. Die starren Arbeitszeitregeln sind immer noch ein Hemmnis für flexible Branchen. Die absurden Ladenschlussgesetze sind immer noch ein Umsatzkiller für den Handel. All diese Wohlstandsbremsen könnten auf Initiative der Sozialpartner beseitigt werden, doch die machen keine Anstalten dazu. Insofern ist die Kritik des Vizekanzlers berechtigt.
Sie ist aber insofern unberechtigt, als die unter Mitterlehners Vize-Führung stehende Regierung ja bisher ebenfalls keine Anstalten machte, die Wohlstandsbremsen zu lockern. Im Bereich der Bildung beispielsweise, die in jeder Sonntagsrede als wichtigster Faktor für das künftige Wohlergehen Österreichs herhalten muss, haben sich die Sozialpartner längst auf ein zukunftsweisendes Konzept geeinigt. Die Regierung hingegen diskutiert immer noch über Türschilder („Gesamtschule“) und Zuständigkeiten („Landeslehrer“). Die Industriellenvereinigung wiederum präsentierte vor wenigen Wochen einen fundierten Vorschlag für eine neue Lehrerausbildung. Reaktion der Regierung? Keine, man musste ja wahlkämpfen und einen neuen Bundeskanzler in Stellung bringen. Nicht den Sozialpartnern, sondern der Regierung ist es zu verdanken, dass die Steuerlast immer drückender, die Staatsschuld immer höher wird und immer noch Milliarden an Förderungen ohne Transparenz vergeben werden. Wie wär’s damit, die Schuldzuweisungen einzustellen und die Wohlstandsbremsen gemeinsam zu beseitigen?