Salzburger Nachrichten

Polen und Deutschlan­d wirken wie ein missgelaun­tes Ehepaar

Vor 25 Jahren schlossen Polen und Deutschlan­d einen Freundscha­ftsvertrag. Die Partnersch­aft hält – trotz gerade aktueller Streitigke­iten.

- AUSSEN@SALZBURG.COM

Die Wahrheit liegt auf dem Platz, heißt es in der Fußballers­prache. Anders formuliert: Trainingse­indrücke, statistisc­he Werte oder die schöneren Stimmen beim Absingen der Hymne zählen nichts, sondern nur Tore im Spiel. Auf politische­m Feld ist es etwas komplizier­ter. Zwischentö­ne, diplomatis­che Gesten oder Interviewä­ußerungen haben durchaus ihre Bedeutung, selbst wenn die Fakten eindeutig sind. Bestes Beispiel dafür sind die deutschpol­nischen Beziehunge­n – und dies keineswegs nur, weil die Nationalma­nnschaften am Donnerstag bei der EM gegeneinan­der antraten. Seit dem Nachbarsch­aftsvertra­g von 1991 hat sich eine enge Partnersch­aft entwickelt. Der Handel boomt und hat ein Volumen von fast 100 Milliarden Euro erreicht.

Dennoch! Seit in Warschau die erzkonserv­ative, nationalis­tische und deutschlan­dkritische PiS-Partei des Rechtspopu­listen Jarosław Kaczyński regiert, durchschre­iten die langjährig­en Partner ein Stimmungst­ief. Besonders augenfälli­g wird so etwas naturgemäß vor großen Feiern. Und so wirken Deutsche und Polen, die in dieser Woche an 25 Jahre guter Nachbarsch­aft erinnern, wie ein missgelaun­tes Ehepaar bei der Silberhoch­zeit.

In der Flüchtling­spolitik wollen die meisten Polen (unabhängig von der Parteizuge­hörigkeit!) etwas anderes als die Deutschen, nämlich am liebsten gar keine Migranten im Land. Umgekehrt hadert Berlin mit der antirussis­chen Militärpol­itik, die Polen zur Schau stellt. In scharfem Kontrast dazu träumte Bundeskanz­lerin Angela Merkel unlängst laut von einem gemeinsame­n Wirtschaft­sraum zwischen Russland und der EU.

Von Scheidungs­plänen zwischen Deutschen und Polen kann allerdings kaum die Rede sein. Es täte auch allzu weh, und zwar beiden Partnern – siehe oben: Wirtschaft und Handel. Aber auch darüber hinaus gilt, dass die Nachbarn ihre Stellung in Europa und damit in der Welt ohne den anderen nicht halten könnten. Das hat sogar Kaczyński akzeptiert, der sich kürzlich – anders als viele andere Rechtspopu­listen in Europa – laut zu Polens EU-Mitgliedsc­haft bekannte, obwohl sich seine Regierung gleichzeit­ig mit der Brüsseler Kommission heftig über die Grundprinz­ipien von Demokratie und Rechtsstaa­tlichkeit streitet. Kaczyński weiß, dass Polen nicht nur auf die Milliarden­förderung aus Brüssel angewiesen ist. Das Land in der Mitte Europas lebt vom freien Austausch mit seinen Nachbarn – in der Wirtschaft genauso wie in der Kultur und der Wissenscha­ft, in den Bereichen Technik, Verkehr und Infrastruk­tur und nicht zuletzt in Sicherheit­sfragen, vor allem bei der Terrorabwe­hr, aber auch mit Blick auf Russland.

Dasselbe lässt sich auch über Deutschlan­d sagen. Wer meint, die Bundesrepu­blik könnte im 21. Jahrhunder­t als abgeschott­eter Nationalst­aat prosperier­en oder nur existieren, irrt auf ganzer Linie.

Möglicherw­eise wird ein Brexit demonstrie­ren, welche Folgen ein Scheitern der gesamten EU hätte. Für Liebhaber von Horrorfilm­en mag das sogar eine erregende Vorstellun­g sein. Für alle anderen gilt: Man sollte nicht in den Abgrund springen, nur weil man es zu anstrengen­d findet, nach neuen Wegen zu suchen, ohne die Richtung und das Ziel aufzugeben.

 ??  ?? Ulrich Krökel
Ulrich Krökel

Newspapers in German

Newspapers from Austria