„Die Zeit heilt doch nicht alle Wunden“
Vor einem Jahr erschütterte die Amokfahrt in der Grazer Herrengasse ganz Österreich. Ist der mutmaßliche Täter unzurechnungsfähig?
Sie habe Monate gebraucht, bis sie es wieder gewagt habe, die Herrengasse zu betreten, sagt Ute. Und dann auch nur in Begleitung und nach mehreren Therapiesitzungen. Trotzdem habe sie nach nur wenigen Minuten einen Weinanfall bekommen, erzählt die 20jährige Studentin aus Graz. Das plötzliche Weinen verfolge sie bis heute. Etwa wenn sie laute Autogeräusche auf der Straße höre oder auch im Fernsehen. „Die Zeit heilt doch nicht alle Wunden“, sagt Ute. Und: „Dabei war ich ja nur Augenzeugin.“
Ute war am 20. Juni des Vorjahres gegen Mittag „in die Stadt gegangen“, wie es viele aus der Grazer Bevölkerung formulieren, wenn sie nicht ganz zentral wohnen. Einkaufen an einem warmen Vorsommersamstag. An der Kassa einer Boutique wurde sie in ein kurzes Gespräch verwickelt, als sie ins Freie trat, sah sie verletzte, blutende, schreiende Menschen auf dem Boden der Herrengasse liegen. Wenige Sekunden zuvor war Alen R. mit seinem Fahrzeug mit Höllentempo durch die Grazer Promeniermeile gerast. Hatte alles und jeden überfahren, was oder wer seinen Weg kreuzte. Seither gibt es zur „Amokfahrt von Graz“auch einen ausführlichen Eintrag bei Wikipedia. Die traurige Bilanz dieses verhängnisvollen Tages für die steirische Landeshauptstadt? Drei Todesopfer, 36 Verletzte und Dutzende Menschen, die – so wie Ute – durch die insgesamt nur wenige Minuten dauernde Amokfahrt traumatisiert wurden.
„Es ging und geht so vieles durch meinen Kopf. Warum wurde ich verschont? Hätte ich in der Boutique nicht noch ein bisschen geredet, vielleicht hätte er mich erwischt“, berichtet Ute, die sich seit einigen Monaten in psychotherapeutischer Behandlung befindet. Die Last, unsagbares menschliches Leid gesehen zu haben, wird allmählich kleiner. Die Ängste vor einem neuen Zwischenfall flammen aber immer wieder auf.
Ein Jahr nach der Grazer Amokfahrt gedenkt die Stadt Graz jener Ereignisse, die Spuren im kollektiven Gedächtnis hinterlassen haben. Am Sonntag feiert Christian Leibnitz, der Stadtpfarrpropst, in der direkt in der Herrengasse gelegenen Stadtpfarrkirche eine heilige Messe im Gedenken an alle Opfer. Am Montag, dem Jahrestag, wird im GrazMuseum ein Gedenkbereich für die Öffentlichkeit eingerichtet. Dort liegen auch die beiden Kondolenzbücher zur Einsicht auf, zudem wird eine filmische Dokumentation über den Gedenkmarsch anlässlich der Amokfahrt gezeigt. Auch das Grazer Rathaus, in dem eine Gedenkveranstaltung für „113 Personen mit Opferstatus und Begleitpersonen“stattfindet, wird schwarz beflaggt sein. „So etwas vergisst man nie, das schreibt sich ins Gedächtnis ein“, sagt der Grazer ÖVPBürgermeister Siegfried Nagl, der selbst Augenzeuge der Amokfahrt geworden ist. Nagl hatte den Beginn der Amokfahrt miterlebt. In der Zweiglgasse fuhr Alen R. mit seinem blauen Geländewagen ein bosnisches Paar nieder. Der Mann starb, die Frau überlebte schwer verletzt. Für eine Zehntelsekunde sah der Bürgermeister das Gesicht des Mannes, der am Steuer saß. So einen fanatischen Blick habe er noch nie zuvor gesehen, berichtet der Bürgermeister. Dass dem Amokfahrer in zwei von drei Gutachten Unzurechnungsfähigkeit zum Tatzeitpunkt attestiert wurde, entlockte Nagl („Die Schuldfrage ist geklärt, es gibt Hunderte Zeugen“) kürzlich emotionale Aussagen: Er habe damit keine Freude. Und: „ Ich und ein Großteil der Bevölkerung wollen, dass dieser Mann immer in Gewahrsam bleibt.“
Unglaublich viele helfende Hände am Tatort, eine gut funktionierende Rettungskette, Zusammenstehen in der Not, große Solidarität in einer Kommune: Das sind einige der positiven Facetten eines Tages, der die Stadt verändert hat. In einen von der Stadt eingerichteten Spendenfonds wurden bislang 110.000 Euro eingezahlt. Mit diesem Geld werden etwa Therapien für Opfer finanziert, aber auch notwendig gewordene Umbaumaßnahmen in den Wohnungen jener, die dauerhafte gesundheitliche Schäden erlitten hatten. Auch eine „Psychotherapeutische Gruppe für Betroffene der Amokfahrt in Graz“ist entstanden, jeder, der will, kann diese Hilfe annehmen.
Nicht wenige der Betroffenen – unter ihnen auch Ute – warten nun auf das gerichtliche Nachspiel der Amokfahrt. Der 27-jährige Alen R. wurde als „höchst gefährlich“, aber auch als schizophren, paranoid und damit als unzurechnungsfähig eingestuft. Er wird nun von der geschlossenen Abteilung der Grazer Sigmund-Freud-Klinik in die JustizSonderanstalt Göllersdorf überstellt. Letztlich werden die Geschworenen entscheiden, ob er zurechnungsfähig ist oder nicht. Der Prozess könnte bereits im Herbst im Landesgericht Graz stattfinden.