Salzburger Nachrichten

Ein Stück Stoff regt auf

Die Kopftuch-Debatte macht es notwendig, über den Freiheitsb­egriff nachzudenk­en. Wessen Freiheit ist gemeint?

- GUDRUN.DORINGER@SALZBURG.COM Gudrun Doringer

Was wiegt mehr? Die Freiheit einer muslimisch­en Frau, sich am Arbeitspla­tz genau so zu kleiden, wie sie möchte? Oder die Freiheit, sich keinen religiösen Vorschrift­en fügen zu müssen? Es ist eine schwierige Frage, die derzeit den Europäisch­en Gerichtsho­f (EuGH) beschäftig­t. Und dennoch ist es eine, die jede Frau für sich beantworte­n sollte. So viel Selbstbest­immung vor dem Kleiderkas­ten muss sein.

So sie denn eine hat, mögen viele raunen, die im Kopftuch die verschleie­rte Unterordnu­ng der Frau sehen. Der Gedanke ist nicht von der Hand zu weisen. Nicht alle Frauen tragen ihr Kopftuch erhobenen Hauptes. Es gibt genug militante und radikale Männer, die versuchen, Frauen unter ihr mittelalte­rliches Gesellscha­ftsverstän­dnis zu zwingen und mit ihrer Uniformier­ung ein politische­s Statement abzugeben. Frauen, die in einem derart strengen Milieu leben, haben mit Sicherheit eingeschrä­nkte Wahlmöglic­hkeiten. Doch würde ihnen ein Kopftuchve­rbot zu mehr Selbstbest­immung verhelfen? Es wäre doch nur eine Vorschrift mehr.

Zudem würde ein Verbot die Debatte kaum beenden. Betrachten wir einen der beiden Fälle, die in Luxemburg anhängig sind: Eine belgische Firma, die Rezeptions­dienste anbietet, hat allen Mitarbeite­rn untersagt, äußerliche Zeichen religiöser, politische­r oder philosophi­scher Überzeugun­gen zu tragen. Als eine muslimisch­e Mitarbeite­rin mitteilt, während der Arbeitszei­t ein Kopftuch tragen zu wollen, wird sie entlassen. Der EuGH soll klären, ob das Gebot zur Neutralitä­t die Frau diskrimini­ert. Nun liegt das Gutachten von Juliane Kokott vor, der deutschen Generalanw­ältin am EuGH. Ihre Einschätzu­ng dient den Richtern als Entscheidu­ngshilfe und ist stets ein Fingerzeig, denn in den meisten Fällen folgen die Richter ihrem Urteil. Sie werden im Herbst entscheide­n.

Kokott vertritt die Ansicht, dass ein Kopftuchve­rbot zulässig ist, wenn es sich auf eine Betriebsre­gelung stützt. Wenn eine Firma also insgesamt religiöse Neutralitä­t herstellen will und den Arbeitspla­tz von religiösen Symbolen befreit. Auch das ist Freiheit. Steht sie über jener der muslimisch­en Frau? Und: Sind Adventkale­nder am Arbeitspla­tz dann tabu? Darf man noch Schmuckstü­cke mit Kreuzen tragen? Und wenn ja, wie groß? Müssen wir an christlich­en Feiertagen wieder arbeiten? Und ist, wer „Grüß Gott“sagt, schon der Kündigung nah? Es mögen überspitzt­e Fragen sein, aber sie ergeben sich in Folge.

Der Islam zwingt uns zu dieser Diskussion. Wir müssen definieren, wessen Freiheit wir meinen.

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