Ein Stück Stoff regt auf
Die Kopftuch-Debatte macht es notwendig, über den Freiheitsbegriff nachzudenken. Wessen Freiheit ist gemeint?
Was wiegt mehr? Die Freiheit einer muslimischen Frau, sich am Arbeitsplatz genau so zu kleiden, wie sie möchte? Oder die Freiheit, sich keinen religiösen Vorschriften fügen zu müssen? Es ist eine schwierige Frage, die derzeit den Europäischen Gerichtshof (EuGH) beschäftigt. Und dennoch ist es eine, die jede Frau für sich beantworten sollte. So viel Selbstbestimmung vor dem Kleiderkasten muss sein.
So sie denn eine hat, mögen viele raunen, die im Kopftuch die verschleierte Unterordnung der Frau sehen. Der Gedanke ist nicht von der Hand zu weisen. Nicht alle Frauen tragen ihr Kopftuch erhobenen Hauptes. Es gibt genug militante und radikale Männer, die versuchen, Frauen unter ihr mittelalterliches Gesellschaftsverständnis zu zwingen und mit ihrer Uniformierung ein politisches Statement abzugeben. Frauen, die in einem derart strengen Milieu leben, haben mit Sicherheit eingeschränkte Wahlmöglichkeiten. Doch würde ihnen ein Kopftuchverbot zu mehr Selbstbestimmung verhelfen? Es wäre doch nur eine Vorschrift mehr.
Zudem würde ein Verbot die Debatte kaum beenden. Betrachten wir einen der beiden Fälle, die in Luxemburg anhängig sind: Eine belgische Firma, die Rezeptionsdienste anbietet, hat allen Mitarbeitern untersagt, äußerliche Zeichen religiöser, politischer oder philosophischer Überzeugungen zu tragen. Als eine muslimische Mitarbeiterin mitteilt, während der Arbeitszeit ein Kopftuch tragen zu wollen, wird sie entlassen. Der EuGH soll klären, ob das Gebot zur Neutralität die Frau diskriminiert. Nun liegt das Gutachten von Juliane Kokott vor, der deutschen Generalanwältin am EuGH. Ihre Einschätzung dient den Richtern als Entscheidungshilfe und ist stets ein Fingerzeig, denn in den meisten Fällen folgen die Richter ihrem Urteil. Sie werden im Herbst entscheiden.
Kokott vertritt die Ansicht, dass ein Kopftuchverbot zulässig ist, wenn es sich auf eine Betriebsregelung stützt. Wenn eine Firma also insgesamt religiöse Neutralität herstellen will und den Arbeitsplatz von religiösen Symbolen befreit. Auch das ist Freiheit. Steht sie über jener der muslimischen Frau? Und: Sind Adventkalender am Arbeitsplatz dann tabu? Darf man noch Schmuckstücke mit Kreuzen tragen? Und wenn ja, wie groß? Müssen wir an christlichen Feiertagen wieder arbeiten? Und ist, wer „Grüß Gott“sagt, schon der Kündigung nah? Es mögen überspitzte Fragen sein, aber sie ergeben sich in Folge.
Der Islam zwingt uns zu dieser Diskussion. Wir müssen definieren, wessen Freiheit wir meinen.