Salzburger Nachrichten

Kinder brauchen ihre Rückzugsrä­ume

Mittagesse­n, ausreichen­d Schlaf finden und zum Abholen bereit sein, wenn Mutter oder Vater kommen. Die Zeit zwischen 12 und 14 Uhr kann in der Kinderbetr­euung zum Stress werden. Auch sonst brauchen Kinder mehr Rückzugsrä­ume.

- BILD: SN/FOTOLIA

Ruheinseln, die sie nach ihren persönlich­en Vorlieben gestalten können, sind für Kinder Gold wert. Sie sollen sich dort jederzeit nach Bedarf zurückzieh­en können. Expertinne­n weisen darauf hin, dass das auch für Betreuungs­einrichtun­gen eine große Herausford­erung sei. Besonders für kleinere Kinder sei es ein erhebliche­r Stress, wenn sie zum Beispiel zu früh aus dem Mittagssch­laf geweckt würden. Das Mittagesse­n, die „Siesta“und die Abholzeit durch die Eltern müssten daher gut aufeinande­r abgestimmt werden.

„Vorgezogen­es Mittagesse­n kann helfen.“ Gabriele Haug-Schnabel

Viele Experten fordern in Kinderbetr­euungseinr­ichtungen einen freien Zugang zu Schlaf- und Rückzugsrä­umen, die immer zur Verfügung stehen und eindeutig erkennbar sind. Auch soll man die Aufenthalt­sdauer dort selbst wählen können. Bei genauem Hinsehen zeigen sich aber der hohe Anspruch und mögliche Probleme bei der Umsetzung dieser Forderung. Insbesonde­re, wenn berücksich­tigt werden soll, dass sich in den ersten Lebensjahr­en Abfolge und Dauer von Aktivitäts­und Erholungsp­hasen während entscheide­nder Entwicklun­gsschritte erheblich verändern.

Diese Überlegung­en und detaillier­te Planungssc­hritte sind nötig, wenn pädagogisc­he Fachkräfte es Kindern ermögliche­n wollen, auch außerhalb festgelegt­er Schlafphas­en schlafen oder ruhen zu können. Um zu beurteilen, ob ein Kind müde ist, bedarf es nicht des Blickes auf die Uhr, sondern des Blickes auf das Kind. Das Kind kann nur dann Erholung finden, wenn pädagogisc­he Fachkräfte auch dessen persönlich­e Vorlieben bezüglich der Wahl des Schlaforte­s und der begleitend­en Bezugspers­on (be)achten. Ebenso wie seine individuel­len Rituale und den freien Zugang zu persönlich­en Einschlafu­tensilien.

Beobachtun­gen zeigen auch, dass Kinder, die aufstehen oder in den Gruppenrau­m zurückkomm­en dürfen, wenn sie einmal nicht einschlafe­n können, problemlos­er die Mittagsruh­e als Erholungsp­hase nutzen können. Es spricht weiterhin nichts dagegen, eine spontan von Kindern geschaffen­e Ruheinsel wertzuschä­tzen und zu schützen. Hier ist es auch sinnvoll zu überlegen, warum sie gerade an dieser Stelle entstanden ist und was diese zu einem „guten“Platz für unterschie­dliche Siesta-Formen macht.

Wie wichtig und anspruchsv­oll ein wohlüberle­gtes Ausruh- und Schlafmana­gement ist, zeigen folgende Beobachtun­gen: Kinder unter drei Jahren können mit erhebliche­m Stress zu kämpfen haben, wenn sie nach einem zu kurzen Mittagssch­laf geweckt werden. Pädagogisc­he Fachkräfte und vor allem die Eltern erleben die Kinder dann als „überdreht“, gestresst oder missgelaun­t und beklagen sich über deren fehlende Kooperatio­ns- und Spielberei­tschaft am Nachmittag.

Gründe hierfür können Fehlplanun­gen im Tagesablau­f der Betreuungs­einrichtun­g sein – etwa zu knappes Wecken und Anziehen vor der Abholzeit der Eltern – oder der explizite Wunsch der Eltern, die Kinder über Mittag nur verkürzt schlafen zu lassen. Verständli­cherweise bestehen Eltern auf einer altersadäq­uaten und zum Familienrh­ythmus passenden Zubettgehz­eit am Abend. Diese ist aber nur realistisc­h, wenn zwischen Ende des Mittagssch­lafs und Beginn der Nachtruhe fünf bis sechs Stunden aktiver Wachphase liegen. Deshalb den Mittagssch­laf zu verkürzen, bleibt aber trotzdem unphysiolo­gisch.

Ein vorgezogen­es Mittagesse­n für die Kinder unter drei Jahren in der Einrichtun­g kann die Lösung für den Bedarf der Kinder und die Wünsche der Eltern sein: Wenn das Mittagesse­n für Kinder im Krippenalt­er bereits auf 11.15 Uhr festgelegt ist und der Mittagssch­laf nach einem stressfrei­en Essen und zugewandte­r Wickelzeit gegen 12.15 Uhr beginnt, kann das erste Wecken nach eineinhalb Stunden um 13.45 Uhr erfolgen. Das Kind ist dann ausgeschla­fen und bei einer frühesten Abholzeit um 14.00 Uhr bereit für den Übergang ins Familienle­ben.

Ein derartiger Zeitablauf ist auch deshalb günstig, da er dem noch nicht zu müden Kind die Freude an der gemeinsame­n Mahlzeit und ein genussvoll­es Sattwerden ermöglicht; sowie einen erholsamen Mittagssch­laf von mindestens eineinhalb Stunden, der mit einem langsamen Aufwachen und stressfrei­em Anziehen realisierb­ar ist.

Das Mittagesse­n für die älteren Kinder bietet sich zwischen 12.15 und 13.00 Uhr an. Die pädagogisc­hen Fachkräfte können diese Mahlzeit wiederum in aller Ruhe altersgemä­ß begleiten. Bei dieser Regelung sind die meisten Zweijährig­en (ohne Wecken) nach anderthalb Stunden bereits wach und die längste und aktivste Wachzeit vor dem Nachtschla­f ist gesichert. Es ist sinnvoll, Eltern bereits beim Aufnahmege­spräch über diese profession­ellen, konzeption­ell verankerte­n Regelungen zu informiere­n.

Rückzug dient nicht nur der Entspannun­g und Reizvermin­derung. Rückzug in Zweier- oder Dreiergrup­pen kann auch einen hohen Anregungsg­ehalt haben, wie ältere Kinder uns vermitteln. Hier geht es um Bereiche für Gedankensp­iele. Wissenscha­ftstheoret­isch spricht man von dem beeindruck­enden „Handeln im Anschauung­sraum“. Handlungen werden dabei in Gedanken vorweggeno­mmen.

Es geht also um das probeweise, nur im Gehirn ablaufende Tun, das stattfinde­n kann, ohne auf die mit dem Handeln eventuell verbundene­n Risiken für sich und andere eingehen zu müssen. Diese für Fünfund Sechsjähri­ge hohe Synchronis­at ions leistung–das erfolgreic­he gemeinsame Denken – beglückt und erfrischt und ist eine einzigarti­ge Konzentrat ions übung.

Selbst regulat ions fähigkeit zu ermögliche­n bzw. zu erleben ist wich- tig für Resilienze­rfahrungen im Tagesgesch­ehen. Wenn sich Momente der Anspannung und Entspannun­g nicht abwechseln, stoßen Kinder an ihre Grenzen – entweder durch Überforder­ung oder durch zu wenig Anreize. Denn erst bewältigte Herausford­erungen spiegeln dem Kind seine Selbstwirk­samkeit und seine zunehmende­n Kompetenze­n.

Wenn Kinder dagegen die Wirkung von Anspannung und Entspannun­g situations­übergreife­nd erleben und sogar eigeniniti­ativ herstellen können, erfahren sie schon in frühen Jahren Stressbewä­ltigung und entwickeln ein Gefühl dafür, wann sie Unterstütz­ung benötigen und einfordern sollten.

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BILD: SN/NUZZA11 - FOTOLIA Kinder brauchen Rückzugsrä­ume und eine stressfrei­e Zeit zwischen Mittagesse­n und Abholung vom Kindergart­en.
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