Kinder brauchen ihre Rückzugsräume
Mittagessen, ausreichend Schlaf finden und zum Abholen bereit sein, wenn Mutter oder Vater kommen. Die Zeit zwischen 12 und 14 Uhr kann in der Kinderbetreuung zum Stress werden. Auch sonst brauchen Kinder mehr Rückzugsräume.
Ruheinseln, die sie nach ihren persönlichen Vorlieben gestalten können, sind für Kinder Gold wert. Sie sollen sich dort jederzeit nach Bedarf zurückziehen können. Expertinnen weisen darauf hin, dass das auch für Betreuungseinrichtungen eine große Herausforderung sei. Besonders für kleinere Kinder sei es ein erheblicher Stress, wenn sie zum Beispiel zu früh aus dem Mittagsschlaf geweckt würden. Das Mittagessen, die „Siesta“und die Abholzeit durch die Eltern müssten daher gut aufeinander abgestimmt werden.
„Vorgezogenes Mittagessen kann helfen.“ Gabriele Haug-Schnabel
Viele Experten fordern in Kinderbetreuungseinrichtungen einen freien Zugang zu Schlaf- und Rückzugsräumen, die immer zur Verfügung stehen und eindeutig erkennbar sind. Auch soll man die Aufenthaltsdauer dort selbst wählen können. Bei genauem Hinsehen zeigen sich aber der hohe Anspruch und mögliche Probleme bei der Umsetzung dieser Forderung. Insbesondere, wenn berücksichtigt werden soll, dass sich in den ersten Lebensjahren Abfolge und Dauer von Aktivitätsund Erholungsphasen während entscheidender Entwicklungsschritte erheblich verändern.
Diese Überlegungen und detaillierte Planungsschritte sind nötig, wenn pädagogische Fachkräfte es Kindern ermöglichen wollen, auch außerhalb festgelegter Schlafphasen schlafen oder ruhen zu können. Um zu beurteilen, ob ein Kind müde ist, bedarf es nicht des Blickes auf die Uhr, sondern des Blickes auf das Kind. Das Kind kann nur dann Erholung finden, wenn pädagogische Fachkräfte auch dessen persönliche Vorlieben bezüglich der Wahl des Schlafortes und der begleitenden Bezugsperson (be)achten. Ebenso wie seine individuellen Rituale und den freien Zugang zu persönlichen Einschlafutensilien.
Beobachtungen zeigen auch, dass Kinder, die aufstehen oder in den Gruppenraum zurückkommen dürfen, wenn sie einmal nicht einschlafen können, problemloser die Mittagsruhe als Erholungsphase nutzen können. Es spricht weiterhin nichts dagegen, eine spontan von Kindern geschaffene Ruheinsel wertzuschätzen und zu schützen. Hier ist es auch sinnvoll zu überlegen, warum sie gerade an dieser Stelle entstanden ist und was diese zu einem „guten“Platz für unterschiedliche Siesta-Formen macht.
Wie wichtig und anspruchsvoll ein wohlüberlegtes Ausruh- und Schlafmanagement ist, zeigen folgende Beobachtungen: Kinder unter drei Jahren können mit erheblichem Stress zu kämpfen haben, wenn sie nach einem zu kurzen Mittagsschlaf geweckt werden. Pädagogische Fachkräfte und vor allem die Eltern erleben die Kinder dann als „überdreht“, gestresst oder missgelaunt und beklagen sich über deren fehlende Kooperations- und Spielbereitschaft am Nachmittag.
Gründe hierfür können Fehlplanungen im Tagesablauf der Betreuungseinrichtung sein – etwa zu knappes Wecken und Anziehen vor der Abholzeit der Eltern – oder der explizite Wunsch der Eltern, die Kinder über Mittag nur verkürzt schlafen zu lassen. Verständlicherweise bestehen Eltern auf einer altersadäquaten und zum Familienrhythmus passenden Zubettgehzeit am Abend. Diese ist aber nur realistisch, wenn zwischen Ende des Mittagsschlafs und Beginn der Nachtruhe fünf bis sechs Stunden aktiver Wachphase liegen. Deshalb den Mittagsschlaf zu verkürzen, bleibt aber trotzdem unphysiologisch.
Ein vorgezogenes Mittagessen für die Kinder unter drei Jahren in der Einrichtung kann die Lösung für den Bedarf der Kinder und die Wünsche der Eltern sein: Wenn das Mittagessen für Kinder im Krippenalter bereits auf 11.15 Uhr festgelegt ist und der Mittagsschlaf nach einem stressfreien Essen und zugewandter Wickelzeit gegen 12.15 Uhr beginnt, kann das erste Wecken nach eineinhalb Stunden um 13.45 Uhr erfolgen. Das Kind ist dann ausgeschlafen und bei einer frühesten Abholzeit um 14.00 Uhr bereit für den Übergang ins Familienleben.
Ein derartiger Zeitablauf ist auch deshalb günstig, da er dem noch nicht zu müden Kind die Freude an der gemeinsamen Mahlzeit und ein genussvolles Sattwerden ermöglicht; sowie einen erholsamen Mittagsschlaf von mindestens eineinhalb Stunden, der mit einem langsamen Aufwachen und stressfreiem Anziehen realisierbar ist.
Das Mittagessen für die älteren Kinder bietet sich zwischen 12.15 und 13.00 Uhr an. Die pädagogischen Fachkräfte können diese Mahlzeit wiederum in aller Ruhe altersgemäß begleiten. Bei dieser Regelung sind die meisten Zweijährigen (ohne Wecken) nach anderthalb Stunden bereits wach und die längste und aktivste Wachzeit vor dem Nachtschlaf ist gesichert. Es ist sinnvoll, Eltern bereits beim Aufnahmegespräch über diese professionellen, konzeptionell verankerten Regelungen zu informieren.
Rückzug dient nicht nur der Entspannung und Reizverminderung. Rückzug in Zweier- oder Dreiergruppen kann auch einen hohen Anregungsgehalt haben, wie ältere Kinder uns vermitteln. Hier geht es um Bereiche für Gedankenspiele. Wissenschaftstheoretisch spricht man von dem beeindruckenden „Handeln im Anschauungsraum“. Handlungen werden dabei in Gedanken vorweggenommen.
Es geht also um das probeweise, nur im Gehirn ablaufende Tun, das stattfinden kann, ohne auf die mit dem Handeln eventuell verbundenen Risiken für sich und andere eingehen zu müssen. Diese für Fünfund Sechsjährige hohe Synchronisat ions leistung–das erfolgreiche gemeinsame Denken – beglückt und erfrischt und ist eine einzigartige Konzentrat ions übung.
Selbst regulat ions fähigkeit zu ermöglichen bzw. zu erleben ist wich- tig für Resilienzerfahrungen im Tagesgeschehen. Wenn sich Momente der Anspannung und Entspannung nicht abwechseln, stoßen Kinder an ihre Grenzen – entweder durch Überforderung oder durch zu wenig Anreize. Denn erst bewältigte Herausforderungen spiegeln dem Kind seine Selbstwirksamkeit und seine zunehmenden Kompetenzen.
Wenn Kinder dagegen die Wirkung von Anspannung und Entspannung situationsübergreifend erleben und sogar eigeninitiativ herstellen können, erfahren sie schon in frühen Jahren Stressbewältigung und entwickeln ein Gefühl dafür, wann sie Unterstützung benötigen und einfordern sollten.