Licht ins Dunkel bringen
Soziale Relevanz statt Repräsentation: Die Architekturbiennale Venedig steht im Zeichen der Krisen.
OOft erzielen einfache Ideen die größte Wirkung: Die Installation „Lightscapes“der deutschen Architektin Anja Thierfelder und Transsolar, dem Büro für Klima-Engineering, ist eines der beliebtesten Fotomotive auf der 15. Architekturbiennale in Venedig. Im von mächtigen Säulen geprägten Arsenale bahnen sich künstliche Lichtstrahlen den Weg durch die Dunkelheit und treffen auf dem Boden auf. 20 statische Scheinwerferkegel, die den Raum diagonal mit Helligkeit erfüllen, scheinen Besucher jeden Alters zu faszinieren.
Anja Thierfelder und Transsolar verweisen mit den Inszenierung eines Naturschauspiels auf das Phänomen des Lichtregens. „Lightscapes“ist als Appell an die Zunft der Architekten zur Schärfung der Wahrnehmung und auf ein stärkeres Eingehen auf die spezifische Identität eines Ortes gedacht. Transsolar hat auch bei der von Stararchitekt Jean Nouvel geplanten LouvreAußenstelle in Abu Dhabi mitgearbeitet, wo es über die Kuppel zu einem (natürlichen) Lichtregen kommen soll. „Lightscapes“ist auch deshalb eine Vorzeige-Installation, weil sie – ja nach Perspektive – anders wirkt. Perspektivenwechsel schafft neue Erkenntnisse, das ist in etwa die Kurzformel des chilenischen Architekten Alejandro Aravena, der unter dem Motto „Reporting from the Front“(„Von der Front berichten“) 88 internationale Architekten und Architektengruppen aus 37 Nationen zur Biennale eingeladen hat. Mit dem Plakat der Architekturbiennale – es zeigt die auf eine Leiter gestiegene deutsche Forscherin Maria Reiche beim Studium der Nazca-Linien in der Wüste von Peru – ist Aravena ein ebenso eindrückliches wie symbolträchtiges Motiv gelungen: „Wenn man auf dem Boden steht, ergeben die Steine keinen Sinn, sie erscheinen nur wie Schotter. Aber von den hohen Stufen aus betrachtet, werden die Steine zu einem Vogel, einem Baum oder einer Blume.“
Perspektivenwechsel zieht sich durch die noch bis 27. November geöffnete Architekturbiennale, nicht nur durch die Hauptausstellung, auch durch manche der 65 Länderpavillons. Schuhe ausziehen heißt es etwa im Schweizer Pavillon. Christian Kerez hat im Inneren mit „Incidental Space“einen fragilen, begehbaren und rätselhaften Kunstraum geschaffen, der zugleich Rückzugsort und Entdeckerhöhle ist. Der Schweizer Architekt wollte sich der Tradition, Fotos, Modelle oder Pläne auszustellen, entziehen und einen „Raum als Ereignis“kreieren: „Es ging mir darum, einen Raum zu schaffen, der nicht auf einen Raum außerhalb von sich selbst verweist und weder funktional noch illustrativ ist.“In der weißen „gefundenen Raumfigur“soll das Nachdenken über die Machbarkeit von Architektur – sowohl in den Vorstellungen als auch von der technischen Seite – gefördert werden.
Beim Preisregen der Biennale ging die Schweiz leer aus, mit dem Goldenen Löwen wurde hingegen der unter dem Motto „Unfinished“stehende spanische Pavillon ausgezeichnet. Auf einem monumentalen Metallgerüst sind Arbeiten zu sehen, die unter die Begriffe „schlicht“, „roh“, „nicht perfekt“, „unmodern“, „ungeschliffen“oder „unfein“fallen. Die Besucher merken, wie sehr eine Krise auch eine Chance (für einen positiven Neubeginn) sein kann. Denn: Eine jüngere Architektengeneration reagiert mit viel Kreativität und Improvisationsgabe auf die durch die geplatzte Immobilienblase im Land entstandenen Rohbau-Ansammlungen: kleine, richtige Ansätze in Ruinen des Scheiterns. „Eine prägnant kuratierte Auswahl aufstrebender Architekten, deren Arbeit zeigt, wie Kreativität und Engagement Materialzwänge überwinden können“, lautete das Urteil der Biennale-Jury.
Als richtiger Ansatz für die in Venedig vertretene These, wonach Architektur zu einer besseren Welt beitragen könne, gilt auch das für Afrika, speziell für Äthiopien konzipierte Projekt „Warka Water“. Basierend auf einer Erfindung des Designers Arturo Vittori wurde ein Turm entwickelt, der aus der Luft Trinkwasser gewinnen kann. „Warka Water“wird von der Gruppe Architektur und Vision präsentiert und hat sich bereits in der Praxis bewährt: Mit einem feinen Netz kann er Nebeltropfen aus der Luft filtern, Regenwasser speichern und den sich nächtens ablagernden Tau sammeln. Im Schnitt können so zwischen 50 und 100 Liter Wasser pro Tag der Bevölkerung übergeben werden. Strom wird hierfür keiner benötigt, bloß Bambus, Hanf, Metall und Bioplastik. Die der Wassergewinnung dienenden Türme können vor Ort selbst hergestellt werden und funktionieren in nebeligen Gebieten am besten. In Teilen Äthiopiens gehen Menschen täglich bis zu sechs Stunden, um Trinkwasser zu finden. „Warka Water“– ein Turm kostet weniger als 1000 Euro – verbessert die Lebensbedingungen dieser Menschen. Dass nicht alles auf der Architekturbiennale sozial engagiert und auf die unmittelbaren Bedürfnisse der Menschen abgestimmt ist, zeigt etwa das 2014 vom Russen Boris Bernaskoni entworfene Matrex-Gebäude für das Innovationszentrum Skolkowo bei Moskau. Im Inneren wie eine gigantische Matrjoschka im Aussehen, wird das monumentale Multifunktionsgebäude als „globales Symbol der Macht“beworben. Die staatsnahe Mischung aus Utopismus und Futurismus wirkt wie ein dunkelblauer Fremdkörper in Venedig. Auch wenn Matrex mit energieeffizienten Technologien aufwarten kann und Erinnerungen an legendäre russische „Papierarchitektur“weckt.
Wie berichtet, steht das globale Thema „Flüchtlingsbewegung“im Zentrum der Pavillons von Deutschland und Österreich. Die Deutschen definieren sich mit der Ausstellung „Making Heimat. Germany, Arrival Country“als offenes Einwanderungsland. 48 Tonnen Ziegelsteine wurden aus den Wänden gebrochen, jetzt weht Tag und Nacht der Wind der Lagune durch den Pavillon jenes Landes, das allein im Vorjahr mehr als eine Million Schutzsuchende aufgenommen hat. Zudem erfährt man etwas über die Qualität der Flüchtlingsquartiere, über die wichtigsten Voraussetzungen einer Ankunftsstadt und was zeitgenössische Architektur generell haben muss, um Krisen zu meistern. Die Präsentation folgt inhaltlich den Thesen des britisch-kanadischen Autors Doug Saunders („Arrival City“): „Erst wenn Migranten selbst die Befugnis, das Wissen und den Einfluss besitzen, um ihre Institutionen, ihre Lebensumstände und ihren physischen Raum zu gestalten, wird es möglich sein, sich von der alten Phrase zu verabschieden, man müsse ,die Immigranten integrieren‘.“
Österreich wiederum zeigt einige Beispiele aus der Praxis. Wie bestehende Immobilien mit architektonischen Mitteln adaptiert werden können, damit aus ihnen eine würdige Unterkunft mit Betreuungsmöglichkeiten entsteht. Architektur- und Designbüros wurden eingeladen, an drei Orten in Wien mit einfachen, aber effizienten Mitteln Eingriffe vorzunehmen. Sonnenschirme, Stoffplanen und Kabelbinder schaffen in offenen Großraumbüros Privatsphäre, eine eigens entwickelte Möbelkollektion ermöglicht im Selbstbau Behaglichkeit im anonymen Ambiente. Und „Raum-im-Raum-Implantate“ ebnen den Weg für Wohn- und Arbeitsnutzungen nicht nur für Schutzsuchende. Die Projekte im rot-weiß-roten Pavillon erfüllen genau jene Kriterien, die der Biennale-Direktor Alejandro Aravena einer Architektur jenseits von Repräsentation, Statussymbol und Selbstzweck zuschreibt: Kreativität, Nachhaltigkeit und Qualität. Der 49-jährige Chilene („Wir können von Menschen, die ihre Hände in Lehm stecken, genauso viel lernen, wie von denen, die im Labor nur ihren Kopf benützen“) rückt Ansätze zur Problemlösung ins Zentrum. So keimt in einem unter anderem von Krieg, Umweltzerstörung, Müllexzessen, Flüchtlingsleid, Armut und Überbevölkerung geprägten Szenario dann doch so etwas wie Hoffnung auf. Ein kollektives Scheitern ist kein Muss, nichts ist unabänderlich, kommt einem als Besucher immer wieder in den Kopf. Voraussetzung dafür wäre aber ein globales Umdenken, ein Setzen anderer Prioritäten als bisher. Ein Stararchitekt – der Brite Norman Foster – geht mit gutem Beispiel voran und bricht etwa eine Lanze für Frachtdrohnen in Ruanda. Durch die unbemannten Flugobjekte sollen Hilfsgüter wie Notfallmedizin auch in entlegene Regionen gelangen. Foster+Partners haben dafür Drohnenflughäfen entwickelt, spätestens 2020 sollen die ersten „Droneports“eröffnet werden. Sie umfassen neben dem Hangar auch medizinische Einrichtungen, ein Postamt und Minibüros. Bauen, um die Welt zu verbessern: Diese Intention (oder ist es eine Utopie?) ist nicht neu, wohl aber zeitgemäß.
Über die Bedingungen, unter denen Architektur entsteht, wird im polnischen Pavillon reflektiert. Was fühlen Bauarbeiter, wenn sie ihrer Arbeit nachgehen? Wie viele Bedienstete auf Baustellen sind unterbezahlt? Warum gibt es so viele schwere Verletzungen unter den Bauarbeitern? Das Projekt „Fair Building“geht diesen und anderen Fragestellungen nach und bringt in einem weithin unbeachteten Themenfeld Licht ins Dunkel.
Von der kleinen Geste (Uruguay-Pavillon) bis zur baulichen wie organisatorischen Großanstrengung (in Indien wird alle zwölf Jahre für das Kumbh-Mela-Fest eine Megacity für insgesamt rund 100 Millionen Besucher aus dem Boden gestampft): Architektur ist ein weites Feld, in dem es vor allem darum geht, die richtigen Fragen zu finden. Zitat Alejandro Aravena: „Nichts ist schlimmer als gute Lösungen für die falschen Probleme.“