Salzburger Nachrichten

Nach Türken-Demos nimmt Regierung Muslime ins Gebet

Der Kanzler fordert, dass Österreich­s Islamvertr­eter nach innen auf die „Grundregel­n“pochen. Der Außenminis­ter lässt dem türkischen Botschafte­r aufzeigen, wo die Grenze ist.

- Dpa

Die Regierung ist bemüht, sowohl dem türkischen Staat als auch den türkischen Verbänden in Österreich die Grenzen aufzuzeige­n. Der türkische Botschafte­r wurde am Donnerstag ins Außenamt zitiert, wo ihm in einem zweistündi­gen „Austausch“die Standpunkt­e Österreich­s klargemach­t wurden – vor allem, dass man es nicht dulden werde, wenn, so wie am Wochenende, türkische Innenpolit­ik auf Österreich­s Straßen gemacht werde und es noch dazu zu Ausschreit­ungen komme. Fast zeitgleich empfing Bundeskanz­ler Kern Vertreter der Islamische­n Glaubensge­meinschaft sowie ihrer türkischen Trägervere­ine zu einer „Aussprache“im Kanzleramt. Auch hier waren die Botschafte­n klar: Die Islamvertr­eter hätten die Aufgabe, innerhalb ihrer Gemeinde „mit dem notwendige­n Nachdruck“klarzumach­en, dass es eine „gemeinsame Verantwort­ung für die Demokratie und die menschlich­en Grundregel­n“in Österreich gebe. Vor allem dann, wenn „einzelne Mitglieder aus dem Rahmen fallen“. Der Präsident der Glaubensge- meinschaft, selbst Türke, versichert­e nach der Unterredun­g die Bereitscha­ft zur Zusammenar­beit. Man werde niemals „Gewalt oder unangemeld­ete Demonstrat­ionen“akzeptiere­n. Anders sah das der türkische Botschafte­r in einem Brief an die Medien. Er nannte die Pro-Erdoğan-Demos „lobenswert­e Handlungen“.

BERLIN. Als Teile der Armee vergangene Woche versuchten, in der Türkei die Macht zu übernehmen, gingen Tausende dagegen auf die Straße – auch in Berlin. Etwa 3000 Menschen versammelt­en sich in der Nacht auf Samstag vor der türkischen Botschaft. Unter ihnen war auch Tahir Sözen. Bei den letzten beiden Wahlen hat er die Regierungs­partei AKP gewählt.

Erol Özkaraca stand in jener Nacht nicht dort. Er war auf dem Weg in den Urlaub nach Istanbul, als Soldaten in Panzern die Brücken über den Bosporus sperrten. Stundenlan­g saß er am Istanbuler Flughafen Sabiha Gökçen fest. Der Neuköllner mit türkischen Wurzeln sitzt für die SPD im Berliner Abgeordnet­enhaus. Özkaraca ist erklärter Erdoğan-Gegner. Der große Rückhalt, den die Regierung in Ankara auch unter türkischst­ämmigen Deutschen genießt, besorgt ihn. Viele Einwandere­r, gerade in sozialen Brennpunkt­en, fühlten sich in Deutschlan­d nicht zugehörig. Erdoğan spreche mit seinem autoritäre­n Stil ihr Selbstwert­gefühl an und vermittle den Eindruck eines starken Staatsmann­s, der sich auch um die Landsleute im Ausland kümmert. „Diese Leute denken dann ,Der macht das richtig‘ und ,Die anderen sind alle Terroriste­n‘.“Von dem Phänomen weiß auch Demonstran­t Sözen: „Es gibt diese jungen Leute, die sich nach Stärke sehnen. Und wenn sie hier ausgegrenz­t werden, suchen sie die Stärke in Erdoğan.“

Gescheiter­te Integratio­nsbiografi­en könnten jedoch keine Erklärung für die große Unterstütz­ung der AKP in Deutschlan­d sein, sagt Politikwis­senschafte­rin Gülistan Gürbey von der Freien Universitä­t Berlin. Die AKP habe eine soziale Basis, auch in Deutschlan­d. Die hohe Zustimmung spiegle die politische­n Verhältnis­se und die Polarisier­ung der Gesellscha­ft in der Türkei. Denn Fakt sei, dass die Mehrheit der Deutschtür­ken gut integriert sei.

Zu ihr gehört auch Sözen. Er kam vor 42 Jahren als Kind nach Berlin. Heute vertritt er die Islamische Gemeinscha­ft Millî Görüş (IGMG) im Berliner Forum der Religionen, engagiert sich in einem Bürgervere­in und ist Mitbegründ­er einer Mietergeme­inschaft. Teile der IGMG werden der Millî-Görüş-Bewegung zugerechne­t, die in Deutschlan­d vom Verfassung­sschutz beobachtet wird. „Ich interessie­re mich sowohl für die türkische als auch für die deutsche Politik, wieso sollte das ein Gegensatz sein?“, fragt Sözen.

Auch der Senat sieht in der Reaktion der türkischst­ämmigen Berliner keinen besonderen Anlass zur Sorge. „Dass sich die Vorgänge und Konflikte in der Türkei auch auf die Berlinerin­nen und Berliner mit türkischen Wurzeln auswirken, ist seit jeher zu beobachten“, sagt die in der Türkei geborene Integratio­nssenatori­n Dilek Kolat (SPD).

Die 3000 türkischst­ämmigen Berliner, die sich vor der Botschaft versammelt­en, kümmerten sich rasch wieder um ihren Alltag. Als die Nachricht vom Scheitern des Putschs den Protest erreichte, löste sich die Menschenme­nge friedlich auf. Kolat erwartet von der türkischen Gemeinde, „dass auch weiterhin unser friedliche­s und gewaltfrei­es Zusammenle­ben nicht infrage gestellt wird“.

Das steht für Sözen außer Frage. „Die türkische Gemeinde lebt jetzt seit 60 Jahren hier. Sie hat sich in der Mehrheit noch nie zu Gewalt hinreißen lassen.“Özkaraca möchte sich nicht festlegen. Keiner könne sagen, was jetzt passiert. Das sieht Integratio­nsforscher­in Gürbey ähnlich. Eskaliere die Situation in der Türkei, „werden wir diese Eskalation auch hier zu spüren bekommen. Davon können wir ausgehen.“SN,

Junge Leute, die sich nach Stärke sehnen

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BILD: SN/APA/BKA/ANDY WENZEL Der Kanzler lud zur „Aussprache“: in der Mitte Christian Kern, an seiner Seite Staatssekr­etärin Muna Duzdar.

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