Salzburger Nachrichten

Wiederholu­ng der Stichwahl

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Ein Jusstudent tritt zu einer Prüfung in Verfassung­s- und Verwaltung­srecht an. Der Prüfungsfr­age liegt folgender Sachverhal­t zugrunde: „Das Beweisverf­ahren der Anfechtung einer Stichwahl zum Bundespräs­identen wegen behauptete­r Rechtswidr­igkeit hat ergeben: Die festgestel­lten Rechtswidr­igkeiten betreffen die Stimmen der Briefwähle­r.

In einigen Wahlbezirk­en wurde zu früh mit der Auswertung der Wahlkarten begonnen. Einige Beisitzer haben das Protokoll unterschri­eben, obwohl sie bei der Auszählung nicht anwesend waren, die Auswertung wurde teilweise von unzuständi­gen Beamten vorgenomme­n und fünf oder sechs Stimmen waren ungültig, weil die Wähler unter 16 Jahre alt waren.“„Ist die Stichwahl in ganz Österreich zu wiederhole­n?“

Der Student freut sich über diese Frage, weil die Antwort im Bundespräs­identenwah­lgesetz 1971 klar und verständli­ch geregelt ist: Artikel 141:

„Der Anfechtung ist stattzugeb­en, wenn die behauptete Rechtswidr­igkeit erwiesen wurde und auf das Verfahrens­ergebnis auch von Einfluss war.“Er überlegt, die paar Stimmen, die ungültig waren, ändern das Ergebnis kaum, die erwiesenen Formfehler und Schlampere­ien machen die abgegebene­n Stimmen nicht ungültig. Seine Antwort ist: „Der VfGH wird der Anfechtung nicht stattgeben.“

Der Prüfer erwidert: „Falsch, nach der Judikatur des Gerichtsho­fes genügt es, wenn die Rechtswidr­igkeit auf das Ergebnis Einfluss haben könnte.“Da verlässt der Kandidat verwirrt und verärgert den Raum. Er kann sich nicht erklären, wie man eine so klare Formulieru­ng des Gesetzeste­xtes durch Auslegung in ihr Gegenteil verändern kann. Er fragt sich auch, warum der Gesetzgebe­r nicht gleich die Formulieru­ng „von Einfluss sein könnte“gewählt hat, wenn er die Aufhebung einer Wahl nicht an die strenge Voraussetz­ung binden wollte. Die Antwort auf diese Frage interessie­rt sicher mehrere Staatsbürg­er. Dr. Ferdinand Tomasi 5203 Weng

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