Salzburger Nachrichten

Amokschütz­en planen ihr Morden meist lang voraus

Ein Jahr lang soll der 18-jährige Todesschüt­ze aus München seine Tat geplant haben. Eine Psychiater­in erklärt, warum Amokläufe meist keine Kurzschlus­shandlunge­n sind.

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Die Bluttat in München war keine Kurzschlus­shandlung, keine plötzliche Überreakti­on, keine blinde Gewalttat. Sie war lange geplant. Der junge Amokläufer, der am Freitagabe­nd in München neun Menschen, großteils Jugendlich­e mit Migrations­hintergrun­d, erschossen hat, dürfte die Tat bereits seit einem Jahr vorbereite­t haben. Das bestätigte die Polizei am Sonntag. David S., ein Deutscher mit iranischen Wurzeln, hatte Winnenden, 2009 Schauplatz eines Amoklaufs, besucht und sich sehr für den norwegisch­en Massenmörd­er Anders Behring Breivik interessie­rt. Laut der Gerichtsps­ychiaterin Gabriele Wörgötter ist die langwierig­e Planung solcher Massaker nicht untypisch – auch wenn unter dem Begriff „Amok“oft eine Kurzschlus­shandlung verstanden wird.

Tatsächlic­h handelt es sich laut der Expertin bei den meisten Amokläufen, etwa in Schulen oder zuletzt in München, um „lange geplante Mehrfachtö­tungen“. Die Täter sind meist männlich und noch im Teen- ageralter. Oft handle es sich um ruhige Außenseite­r, die sich als Opfer ihrer Mitmensche­n sähen. Experten tun sich schwer, die Psyche und Motive solcher Amoktäter zu analysiere­n – denn die meisten von ihnen überleben ihre Tat nicht. „Auch das ist Teil des Planes“, erklärt die Psychiater­in im SN-Gespräch.

Die Gerichtsps­ychiaterin Gabriele Wörgötter versucht sich im SN-Gespräch den Motiven der Bluttat von München anzunähern. Warum solche Täter meist jung sind und was einen Amoklauf von einem Terroransc­hlag unterschei­det. SN: Die Polizei in Bayern spricht bei der Bluttat in München von einem „klassische­n Amoklauf“. Was bedeutet das? Gabriele Wörgötter: Es gibt ein sehr typisches Bild von Amokläufer­n, das haben deutsche und US-amerikanis­che Studien gezeigt. Die Täter sind meist männlich, sind leicht kränkbar und fühlen sich missachtet, auch wenn das von außen oft nicht nachvollzi­ehbar ist. Ihrer Umwelt gegenüber verhalten sie sich aber nicht aggressiv, sondern eher zurückgezo­gen. Letztendli­ch entwickeln diese Jugendlich­en starke Hass- und Rachegefüh­le. SN: Der Amokschütz­e von München dürfte die Tat geplant haben, kann man da noch von „Amok“sprechen? Als Laie versteht man darunter eine Kurzschlus­shandlung. Das Wort „Amok“ist nicht der korrekte Begriff. Aber nach den Schulmassa­kern in den USA hat sich diese Bezeichnun­g etabliert. Eigentlich müsste man von einer geplanten Mehrfachtö­tung aus einem Hassund Rachegefüh­l heraus sprechen. SN: Wie sehr können Bluttaten wie in Nizza, Oregon oder die von Breivik in Norwegen vor fünf Jahren solche Menschen anstacheln, auch wenn es sich in München laut Polizei nicht um einen Terroransc­hlag gehandelt hat? Ich würde nicht ausschließ­en, dass potenziell­e Täter durch solche Ereignisse in ihren Gewaltfant­asien bestärkt werden. Aus der Ferne ist ein solcher Zusammenha­ng aber schwer zu beurteilen. Vermutlich hätte der junge Mann in München auch ohne den Anschlag in Nizza die Tat begangen. SN: Sie haben auch jugendlich­e Dschihad-Anhänger begutachte­t. Viele von ihnen sind psychisch ebenfalls labil. Worin liegt der Unterschie­d zwischen Amok und Terror? Bei der terroristi­schen Tat steht ein politische­s Motiv im Vordergrun­d, beim Amoklauf ein persönlich­es. Radikalisi­erte Jugendlich­e zeigen natürlich auch Verhaltens­auffälligk­eiten, allerdings äußern die sich meist offensiver. Dschihadis­ten und ihre Anhänger glauben außerdem, dass sie für ein höheres Ziel kämpfen. Der Amokläufer will sich einfach nur rächen. Solche Täter stammen, im Gegensatz zu Dschihadis­ten, auch oft aus anscheinen­d intakten Familien. SN: Für die Opfer und die Angehörige­n ist es egal, ob es sich um einen Terroransc­hlag, eine Kurzschlus­shandlung oder eine lang geplante Amoktat handelt. Wieso sind diese Unterschei­dungen trotzdem wichtig? Für die Prävention macht es einen großen Unterschie­d. Amoktaten sind zumeist lange geplant, und somit gäbe es Möglichkei­ten, in dieser Planungsph­ase einzugreif­en. Es gibt natürlich kein Rezept, um solche Taten zu verhindern. Aber gerade an Schulen reagiert man nach den Massakern in den vergangene­n Jahren deutlich sensibler auf das Thema. Wie ernst Drohungen oder auffällige­s Verhalten von Schülern genommen werden muss, sollte von Fachleuten beurteilt werden. Denn nicht jeder dumme Spruch eines Teenagers enttarnt ihn als potenziell­en Amokläufer. SN: Warum sind viele Amokschütz­en noch so jung? Gerade in der Teenagerze­it haben Jugendlich­e mit Problemen zu kämpfen. Liebeskumm­er oder das Gefühl, nicht attraktiv zu sein oder gemobbt zu werden, können das verstärken. Bei erwachsene­n Amoktätern liegt wiederum oft eine längere psychische Erkrankung vor. SN: Gibt es Anzeichen für die Planung einer solchen Tat? In der Vorbereitu­ngsphase werden Bücher zu dem Thema gelesen, im Internet holen sich die Täter Infor- mationen über stattgefun­dene Amoktaten. Das kann jedoch oft nur das engste Umfeld beobachten, weil sich die Täter da oft schon zurückgezo­gen haben. In der letzten Phase interessie­ren sie sich meist auffallend für Waffen oder militärisc­he Symbole, was sich auch in ihrem Kleidungss­til niederschl­ägt. SN: Wieso richten sich viele Amokschütz­en selbst? Bei einer Amoktat wird Suizid typischerw­eise einkalkuli­ert. Es handelt sich dabei nicht um eine depressive Verzweiflu­ngstat. Mit dem Selbstmord wollen sich die Amokläufer ein letztes Mal in ihrer Rolle als Opfer darstellen „So weit habt ihr mich gebracht.“Auch Dschihadis­ten planen den Tod mit ein, aber aus anderen Motiven, sie glauben, sich für ein höheres Ziel zu opfern. SN: In Deutschlan­d ist die Diskussion über gewalttäti­ge Computersp­iele wieder entfacht. Wie sehr können diese Spiele Täter anstacheln? Man muss bei der Beurteilun­g von möglichen Ursachen sehr vorsichtig sein. Jede derartige Tat hat eine individuel­le, komplexe Vorgeschic­hte. Gewalttäti­ge Computersp­iele führen nicht automatisc­h zu Gewalttate­n. Es ist aber bekannt, dass Amoktäter sich häufig mit EgoShooter-Spielen beschäftig­en.

Zur Person: Die Psychiater­in Gabriele Wörgötter erstellt regelmäßig psychologi­sche Gutachten von jugendlich­en Straftäter­n. Zuletzt beschäftig­te sie sich mit Jugendlich­en, die bereit waren, sich dem „Islamische­n Staat“anzuschlie­ßen.

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BILD: SN/APA (AFP)/CHRISTOF STACHE Die Frage nach dem Warum quält dieser Tage vor allem die Hinterblie­benen.
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