Erschöpfte verfallen der Sucht
Menschen greifen zur Flasche oder zur Medikamentenschachtel, weil sie den beruflichen oder privaten Anforderungen nicht mehr gewachsen sind. Sie sollten früh auf Alarmsignale achten.
Jeder ist ab und zu erschöpft und müde, fühlt sich überfordert und frustriert. Ursachen sind hohe Anforderungen im Berufsleben, Anforderungen im Privatleben, oft genug auch zu große Erwartungen an sich selbst. Nehmen diese Zustände so überhand, dass sie nicht mehr erträglich sind, so suchen sich Betroffene immer öfter „Ventile“, wie Hannes Bacher, Leiter der Suchthilfe Salzburg, feststellt. Solche Ventile können Alkohol, Medikamente, Spiele oder das Einkaufen sein. Der Weg in eine Sucht ist mitunter kurz.
SN: Was ist die auffälligste Veränderung, die sie in den vergangenen Jahren in Ihrer Praxis festgestellt haben?
Hannes Bacher: Für mich entscheidend ist die Zunahme an Menschen, die bereits im Alter von Anfang 40 in einem derart desolaten körperlichen und psychischen Zustand sind, dass Unsummen für Therapien, Medikamente und Rehabilitation
SN-THEMA Psychische Belastungen
aufgewendet werden müssen, um diesen Menschen die Chance zu geben, wenigstens noch in Teilzeit arbeiten zu können. Für mich ist das ein Alarmsignal. SN: Sind berufliche oder private Schwierigkeiten die Ursachen? Sowohl als auch. Es ist eindeutig zu sehen, dass in den vergangenen Jahren massive Stressfaktoren am Arbeitsplatz und zunehmende Probleme im zwischenmenschlichen Bereich den Leuten im erwerbsfähigen Alter zusetzen. Ich nenne einige Beispiele dafür: Arbeitnehmer sind bereits Mitte 30, Anfang 40 vom Verlust des Arbeitsplatzes bedroht, Personaleinsparungen sowohl in der Privatwirtschaft als auch in Staatsbetrieben nehmen zu. Jeder kann betroffen sein. Dazu lastet auf denen, die eine Arbeit haben, noch mehr Arbeit. Hochqualifizierte finden anders als früher keine Arbeit.
Im Privatleben nehmen die Stressfaktoren zu, weil verschiedene neue Grundbedürfnisse geschaffen wurden. Jeder braucht einen Computer, ein Auto, meistens auch noch ein Haus und prestigeträchtige Urlaube. Ein Überangebot an Freizeitaktivitäten ist mit zusätzlichem Leistungsdruck verbunden. SN: Wer kommt zu Ihnen in die Suchthilfe? Was wir in der Suchthilfe oft zu sehen bekommen, ist die klassische psychovegetative Erschöpfung, die der Endzustand einer ständigen beruflichen und familiären Stressbelastung ist. SN: Sie nennen eine solche Erschöpfung nicht „Burn-out“. Was ist der Unterschied? Beim klassischen Burn-out geht es um das Thema Arbeit. Betroffene werden am Arbeitsplatz gemobbt, sie klagen über Übelkeit, Angstzustände und Atemnot, wenn sie an die Arbeit denken. Festzustellen ist zudem, dass sie – wenn sie bei Behörden und Ämtern arbeiten – dienstrechtliche Konsequenzen zu erwarten haben, wenn Vorgesetzte der Meinung sind, dass die Aufgaben nicht zu hundert Prozent durchgeführt werden. In der Privatwirtschaft ist zu sehen, dass Arbeitnehmern bei banalen Krankenständen die Rute ins Fenster gestellt wird. Mitarbeitern, die 50 Jahre alt sind, legt man den Gang in die Altersteilzeit nahe. Viele Arbeitnehmer sind in Betrieben oder Ämtern isoliert, also leicht zu manipulieren. Das alles erhöht enorm den Druck auf diese Menschen. Der Stress ist groß. SN: Wie machen sich die privaten Stressfaktoren bemerkbar? Es kommt vermehrt zu privaten Zwistigkeiten. Kleinigkeiten sind Auslöser für Konflikte. Die gemeinsame Zeit mit dem Partner und /oder der Familie wird zurückgestellt. Beruflich ist man also überfordert und privat funktioniert es nicht mehr. Also sucht man einen Ersatz, der einem Glücksgefühle beschert oder der ablenkt. Wir hier sehen, dass das sehr oft der Alkohol ist. Er ist einfach zu bekommen, gesellschaftlich weitgehend anerkannt und äußerst wirksam. Vor zehn Jahren hatten ungefähr drei Prozent der Bevölkerung ein Alkoholproblem. Heute sind es zehn bis zwölf Prozent. Da reden wir noch gar nicht von Medikamentenabhängigkeit. Eine Rolle als Ventil spielen auch die sozialen Medien, Spiele oder das Einkaufen. SN: Was sollen derart Belastete tun? Am besten wäre es, frühzeitig Strukturen zu schaffen, die ein Gleichgewicht zwischen Arbeitsleben und Privatleben möglich machen. Die wenigsten Menschen sind allerdings heutzutage in der Lage, einfach einmal nichts zu tun und richtig auszuspannen. Ich rate zu sportlichen Aktivitäten ohne Leistungsdruck wie Spazierengehen, Wandern, Radfahren, Schwimmen. Gut ist, zu vermeintlichen Normen und Erwartungen Nein zu sagen. Stark sein bedeutet, darüber glücklich zu sein, dass man kein Mitläufer sein muss, dass man nicht jedem Trend hinterherlaufen muss. Der vermeintlich altmodische Begriff Mäßigung trifft diese Einstellung ziemlich gut. Hannes Bacher ist Arzt für Allgemeinmedizin und psychosomatische Medizin, Facharzt für Psychiatrie sowie ärztlicher Leiter der Suchthilfe-Kliniken in Salzburg. Wer Probleme mit einer Sucht hat, kann sich jederzeit dorthin wenden.