Salzburger Nachrichten

Ein Engel macht uns machtlos

Die erste Opernpremi­ere der Salzburger Festspiele führt auf eine rätselhaft­e Party.

- Oper: „The Exterminat­ing Angel“, Salzburger Festspiele, Premiere 28. 7.

SALZBURG. Die Salzburger Festspiele veranstalt­en am kommenden Donnerstag eine sonderbare Party. Schon jetzt ist klar, dass sie grauenhaft enden wird. Und dieses Entsetzen könnte auf Tausende Festspielb­esucher überspring­en.

Die Party findet in einer Opernauffü­hrung statt: In „The Exterminat­ing Angel“sind fünfzehn illustre Gäste in die luxuriöse Villa von Edmundo de Nobile eingeladen. Sie kommen soeben aus der Oper, sind elegant, höflich, in Feierlaune. Im Verlauf des Abends hält sie etwas von dem ab, was Gäste üblicherwe­ise tun: irgendwann den Raum, die Villa und den Gastgeber verlassen.

Dass sie bleiben, dass damit die Villa trotz offener Türen zum Gefängnis wird, dass feine Gäste zu Bestien werden, bewirkt eine Macht, die dem Werk, das in Salzburg uraufgefüh­rt wird, den Titel gibt: ein Vernichtun­gsengel. Dafür haben der Komponist Thomas Adès und der Autor Tom Cairns den gleichnami­gen Film von Luis Buñuel in eine Oper übersetzt, die Zahl der Personen von 21 auf 15 reduziert, die Szenen gestrafft sowie Details verändert.

Was erzeugt so eine Blockade? Warum fühlen sich diese Menschen bei offenen Türen gefangen? Warum verlassen sie nicht den Raum?

Luis Buñuel habe diese passiviere­nde oder zerstöreri­sche Macht mit folgendem Beispiel geschilder­t, erläutert der Komponist Thomas Adès: Man stelle sich vor, man erinnere sich eines Freundes, den man zwanzig Jahre nicht gesehen habe, bedaure diese lange Absenz und beschließe, ihm zu schreiben, lege Papier und Feder parat und schreibe doch nicht. Auch Thomas Adès gesteht: Komponiere­n sei wie ein Ringen mit diesem Engel. Ein Musikstück zu vollenden sei so, wie das Ende eines Durchgangs zu finden. Eine Note zu schreiben sei so, wie durch eine Tür zu gehen.

Zudem hilft eine Figur in Film und Oper beim Entschlüss­eln: der Arzt. Dieser diagnostiz­iere an der Partygesel­lschaft eine „Abulie“, schildert Thomas Adès. Dieser Begriff komme aus dem Griechisch­en und bedeute: Planlosigk­eit, Ratlosigke­it, Willenssch­wäche, Unentschlo­ssenheit.

Wie stellte er diese Anti-Energie musikalisc­h dar? Wie hört sich so eine Un-Musik an? Denkbar wäre für den Vernichtun­gsengel ein Rauschen, sagt Thomas Adès. Er habe aber anderes gewählt: Erstmals verwende er ein elektronis­ches Instrument, und zwar die Ondes Martenot, ein 1928 erfundenes elektronis­ches Tasteninst­rument. Dieses passe zum Engel, denn es sei „melodisch, aber nicht menschlich“.

Das Eingreifen des Engels wird auch anders hörbar: Zu Beginn etwa kämen die Gäste in der Villa an – man werde einander vorgestell­t, man plaudere. Doch die Musik wisse da schon mehr als die Figuren. Hinter der Wirklichke­it der Party gibt es also noch eine Wirklichke­it.

Oder: Man höre dieselbe Musik noch einmal, aber etwas verändert, mit einem Anflug von unrichtige­r Reihenfolg­e. So spüre man, „dass die Wirklichke­it sich auflöst“. Das Geschehen gleitet also ins Surreale.

Luis Buñuel habe fast keine Musik in seinen Filmen, nur Glocken, erläutert Thomas Adès. Daher beginne und beende er seine Oper mit Glocken. Für ihn seien Glocken eine „Musik, die im Moment verharrt“– also Ausdruck für Innehalten oder für Zeitlosigk­eit.

Musikalisc­he Anleihen nimmt er auch woanders, etwa bei Johann Strauß. Zum einen drücke dessen Musik etwas Verführeri­sches aus – im Sinne von „Bleib doch noch ein bisschen. Was sollen wir zu dieser Morgenstun­de auf der Straße? Mach’s dir bequem, verweile noch!“Und als die Gäste in Panik verfallen, verwandelt sich Strauß’ Walzer in eine Art Wirbelstur­m.

Die textliche Grundlage für die Oper ist der Film von Luis Buñuel, ergänzt um dessen Gedichte aus der Frühzeit des Surrealism­us. Zudem sind nach Angaben Thomas Adès’ zwei weitere Texte über Exil und Fremdsein eingewoben: ein Gedicht von Jehuda ha-Levi, einem sephardisc­hen Dichter des 12. Jahrhunder­ts in Spanien, und ein Text des jüdischen Dichters Chaim Bialik.

Wie kann es in einer für die Beteiligte­n unerklärli­chen Unmöglichk­eit gelingen, einen Ausweg zu finden? Da findet sich in der Oper ein Hinweis, den die Hauptfigur der Leticia gibt, die übrigens die höchsten Töne der Oper singt. Sie sei die Erste, die etwas vom Grund der Gefangensc­haft begreife, erläutert Thomas Adès. Folglich findet sie ein Hilfsmitte­l: Man soll dorthin zurück, wo die unselige Lage ihren Ausgang genommen hat. Anders gesagt: Durch ein Wiederhole­n, ein nochmalige­s Versuchen kann ein Ausweg erkannt werden.

Leticia ist eine Fremde in der Gesellscha­ft. Die anderen Gäste sind von Adel oder Großbürger­tum, Leticia hingegen ist auch im Stück eine Künstlerin – genauer: Opernsänge­rin, die vor der Party als Lucia di Lammermoor aufgetrete­n ist.

Und so wie der Komponist sagt, er beende die letzte Notenzeile der Partitur des „Exterminat­ing Angel“nicht mit dem üblichen Doppelstri­ch, so ist das Ende seiner Oper – also der Party – offen: Die aus der gesellscha­ftlichen Gefangensc­haft Befreiten gehen ins Theater zurück. Wenn dann wieder Glocken wie am Beginn ertönen, setzt vielleicht im Festspielp­ublikum dasselbe Fragen wie zuvor auf der Bühne ein: Warum haben wir zweieinhal­b Stunden nicht diesen Raum verlassen?

„Die Musik weiß mehr als die Figuren.“Thomas Adès, Komponist

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BILD: SN/SF/MONIKA RITTERSHAU­S Ein Szenenbild aus einer der letzten Proben für „Exterminat­ing Angel“.
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