Ein Engel macht uns machtlos
Die erste Opernpremiere der Salzburger Festspiele führt auf eine rätselhafte Party.
SALZBURG. Die Salzburger Festspiele veranstalten am kommenden Donnerstag eine sonderbare Party. Schon jetzt ist klar, dass sie grauenhaft enden wird. Und dieses Entsetzen könnte auf Tausende Festspielbesucher überspringen.
Die Party findet in einer Opernaufführung statt: In „The Exterminating Angel“sind fünfzehn illustre Gäste in die luxuriöse Villa von Edmundo de Nobile eingeladen. Sie kommen soeben aus der Oper, sind elegant, höflich, in Feierlaune. Im Verlauf des Abends hält sie etwas von dem ab, was Gäste üblicherweise tun: irgendwann den Raum, die Villa und den Gastgeber verlassen.
Dass sie bleiben, dass damit die Villa trotz offener Türen zum Gefängnis wird, dass feine Gäste zu Bestien werden, bewirkt eine Macht, die dem Werk, das in Salzburg uraufgeführt wird, den Titel gibt: ein Vernichtungsengel. Dafür haben der Komponist Thomas Adès und der Autor Tom Cairns den gleichnamigen Film von Luis Buñuel in eine Oper übersetzt, die Zahl der Personen von 21 auf 15 reduziert, die Szenen gestrafft sowie Details verändert.
Was erzeugt so eine Blockade? Warum fühlen sich diese Menschen bei offenen Türen gefangen? Warum verlassen sie nicht den Raum?
Luis Buñuel habe diese passivierende oder zerstörerische Macht mit folgendem Beispiel geschildert, erläutert der Komponist Thomas Adès: Man stelle sich vor, man erinnere sich eines Freundes, den man zwanzig Jahre nicht gesehen habe, bedaure diese lange Absenz und beschließe, ihm zu schreiben, lege Papier und Feder parat und schreibe doch nicht. Auch Thomas Adès gesteht: Komponieren sei wie ein Ringen mit diesem Engel. Ein Musikstück zu vollenden sei so, wie das Ende eines Durchgangs zu finden. Eine Note zu schreiben sei so, wie durch eine Tür zu gehen.
Zudem hilft eine Figur in Film und Oper beim Entschlüsseln: der Arzt. Dieser diagnostiziere an der Partygesellschaft eine „Abulie“, schildert Thomas Adès. Dieser Begriff komme aus dem Griechischen und bedeute: Planlosigkeit, Ratlosigkeit, Willensschwäche, Unentschlossenheit.
Wie stellte er diese Anti-Energie musikalisch dar? Wie hört sich so eine Un-Musik an? Denkbar wäre für den Vernichtungsengel ein Rauschen, sagt Thomas Adès. Er habe aber anderes gewählt: Erstmals verwende er ein elektronisches Instrument, und zwar die Ondes Martenot, ein 1928 erfundenes elektronisches Tasteninstrument. Dieses passe zum Engel, denn es sei „melodisch, aber nicht menschlich“.
Das Eingreifen des Engels wird auch anders hörbar: Zu Beginn etwa kämen die Gäste in der Villa an – man werde einander vorgestellt, man plaudere. Doch die Musik wisse da schon mehr als die Figuren. Hinter der Wirklichkeit der Party gibt es also noch eine Wirklichkeit.
Oder: Man höre dieselbe Musik noch einmal, aber etwas verändert, mit einem Anflug von unrichtiger Reihenfolge. So spüre man, „dass die Wirklichkeit sich auflöst“. Das Geschehen gleitet also ins Surreale.
Luis Buñuel habe fast keine Musik in seinen Filmen, nur Glocken, erläutert Thomas Adès. Daher beginne und beende er seine Oper mit Glocken. Für ihn seien Glocken eine „Musik, die im Moment verharrt“– also Ausdruck für Innehalten oder für Zeitlosigkeit.
Musikalische Anleihen nimmt er auch woanders, etwa bei Johann Strauß. Zum einen drücke dessen Musik etwas Verführerisches aus – im Sinne von „Bleib doch noch ein bisschen. Was sollen wir zu dieser Morgenstunde auf der Straße? Mach’s dir bequem, verweile noch!“Und als die Gäste in Panik verfallen, verwandelt sich Strauß’ Walzer in eine Art Wirbelsturm.
Die textliche Grundlage für die Oper ist der Film von Luis Buñuel, ergänzt um dessen Gedichte aus der Frühzeit des Surrealismus. Zudem sind nach Angaben Thomas Adès’ zwei weitere Texte über Exil und Fremdsein eingewoben: ein Gedicht von Jehuda ha-Levi, einem sephardischen Dichter des 12. Jahrhunderts in Spanien, und ein Text des jüdischen Dichters Chaim Bialik.
Wie kann es in einer für die Beteiligten unerklärlichen Unmöglichkeit gelingen, einen Ausweg zu finden? Da findet sich in der Oper ein Hinweis, den die Hauptfigur der Leticia gibt, die übrigens die höchsten Töne der Oper singt. Sie sei die Erste, die etwas vom Grund der Gefangenschaft begreife, erläutert Thomas Adès. Folglich findet sie ein Hilfsmittel: Man soll dorthin zurück, wo die unselige Lage ihren Ausgang genommen hat. Anders gesagt: Durch ein Wiederholen, ein nochmaliges Versuchen kann ein Ausweg erkannt werden.
Leticia ist eine Fremde in der Gesellschaft. Die anderen Gäste sind von Adel oder Großbürgertum, Leticia hingegen ist auch im Stück eine Künstlerin – genauer: Opernsängerin, die vor der Party als Lucia di Lammermoor aufgetreten ist.
Und so wie der Komponist sagt, er beende die letzte Notenzeile der Partitur des „Exterminating Angel“nicht mit dem üblichen Doppelstrich, so ist das Ende seiner Oper – also der Party – offen: Die aus der gesellschaftlichen Gefangenschaft Befreiten gehen ins Theater zurück. Wenn dann wieder Glocken wie am Beginn ertönen, setzt vielleicht im Festspielpublikum dasselbe Fragen wie zuvor auf der Bühne ein: Warum haben wir zweieinhalb Stunden nicht diesen Raum verlassen?
„Die Musik weiß mehr als die Figuren.“Thomas Adès, Komponist