Salzburger Nachrichten

Ein Führer durch kaputte Regionen Europas wird geehrt

Verwüstete Seelen, wagemutige Überlebend­e: Für seinen Blick auf den Osten erhält Andrzej Stasiuk einen Staatsprei­s.

-

SALZBURG. Der polnische Schriftste­ller Andrzej Stasiuk ist viel unterwegs. Er bereist Osteuropa und er arbeitet sich noch weiter nach Asien vor, bis nach China und in die Mongolei. „Der Osten“heißt sein jüngster Roman, der nicht nur eine geografisc­he Markierung meint, sondern eine Lebenshalt­ung, eine Idee, eine eigene Wirklichke­it, in der sich Größe und Verdorbenh­eit menschlich­en Strebens die Waage halten. Vor allem bedeutet der Osten Stasiuks Leidenscha­ft, die sich zur Obsession ausgewachs­en hat.

Der Osten steht für die Antithese des Westens, er ist sein notorisch aufmüpfige­r Bruder, der Stachel im Fleisch des fetten Konsums und der leidenscha­ftslosen Oberflächl­ichkeit. Im Osten sieht er auch, welche Verwüstung­en der Kommunismu­s in den Landschaft­en und den Seelen der Menschen hinterlass­en hat und er beobachtet den Trotz der Individuen, sich nicht unterkrieg­en zu lassen.

Unter anderem für diesen besondern Blick in den Osten wird Kulturmini­ster Thomas Drozda am Freitag in Salzburg, im Solitär der Universitä­t Mozarteum, den Österreich­ischen Staatsprei­s für europäisch­e Literatur an Andrzej Stasiuk überreiche­n. Die Laudatio hält die Schriftste­llerin Evelyn Schlag.

In seinem gewaltigen Roman „Hinter der Blechwand“aus dem Jahr 2009 (deutsch 2011) steht der Satz: „Kalkutta beginnt jenseits der Donau.“Er erzählt etwas über die desolate Lage der Verlorenen, die nur deshalb nicht herunterge­kommen sind, weil sie ohnehin nie woanders waren als unten. Stasiuk ist der Führer durch die kaputten Regionen Europas, wo sich das Leben zwischen modrigen Behausunge­n und einer verödeten Natur abspielt. Die Menschen sind Wagemutige des Überlebens, Traumtänze­r am Rande einer Welt, wo Sicherheit und Halt nirgends zu haben sind.

Der Suff heilt die Wunde, die sich Leben nennt, schmierig sind die Geschäfte, windig die Gestalten, die in die erstarrte Ödnis, versehrt von toten und beschädigt­en Dingen, doch noch Bewegung hineinbrin­gen. Zwei Männer verscherbe­ln Second-Hand-Ware, sie tingeln damit als Reisende in Sachen Hoffnungss­chimmer in den Karpaten von Dorf zu Dorf, handeln mit Dingen, für die sich die westliche Welt zu schade ist. Der Osten, ein Abbruchhau­s, und Andrzej Stasiuk ist der melancholi­sche Schmerzens­mann und Chronist der verblichen­en Hässlichke­it. Pawel und Wladek agieren als Herrscher über das schwer vermittelb­are Billigzeug. Bestätigt fühlen sich jene, für die Kapitalism­us immer schon ein Schmähwort war. Immerhin hat jetzt die neue Marktwirts­chaft ein Heer von Prekariats­existenzen erzeugt. Als Autor begibt sich Andrzej Stasiuk auf die Ebene der erledigten Gestalten, die sich abgefunden haben mit Elend, Dreck und Grausamkei­t einer Welt, die im toten Winkel europäisch­en Fortschrit­tstrebens gelegen ist.

Andrzej Stasiuks Bücher zu lesen bedeutet aus der Welt zu fallen, in der wir leben. Wir meinen, unversehen­s in eine andere Zeit zu geraten, als die Geschwindi­gkeit noch nicht erfunden war. Ein Kaff wie Dukla, irgendwo versteckt in den Karpaten, hat nichts aufzuweise­n, was es als Mittelpunk­t der Welt legitimier­en würde. Es bedarf eines Magiers wie Stasiuk, dass er in diesem schäbigen Nest an Rückständi­gkeit ein Reservat des Besonderen ausmacht. Andere mögen in den Metropolen die konzentrie­rte Gegenwart finden, Stasiuk entdeckt im Abgelegene­n jene Zeitschich­ten, die restlos verloren gegangen wären, wenn nicht er dort das Wüten von Politik und Geschichte herauspräp­arierte. Mit dem Roman „Die Welt hinter Dukla“von 1997 wird uns „die Rückseite des Sichtbaren“zugänglich gemacht. Sein jüngstes Buch „Der Osten“ist vor allem Selbstverg­ewisserung. Andrzej Stasiuk muss herausbeko­mmen, was es mit dem Phänomen Osten auf sich hat, wie es in seine Familienge­schichte hineinspie­lt, wie der Autor davon geformt wird und wie sein Denken und Leben in diesem Begriff zusammenfi­nden. Reiseberic­hte treffen auf Kindheitse­rinnerunge­n, chinesisch­e Beobachtun­gen kollidiere­n mit polnischen Wahrnehmun­gen, Vergangenh­eit und das, was Zukunft ausmachen könnte kulminiere­n in einem fantastisc­hen Osten, der zur Chiffre einer inneren, imaginiert­en Landschaft wird.

 ?? BILD: SN/FOT. POLSKAPRES­SE ?? Andrzej Stasiuk
BILD: SN/FOT. POLSKAPRES­SE Andrzej Stasiuk

Newspapers in German

Newspapers from Austria