Das „Siegervolk“Russland braucht die Medaillen
Wie früher in der Sowjetunion ist auch in Wladimir Putins Russland der sportliche Erfolg eine Garantie zum sozialen Aufstieg. Ein Olympia-Bann für Rio hätte verheerende Folgen gehabt.
Es klang wie ein Gnadengesuch. „Die Mütter der russischen Athleten rufen Sie zur Gerechtigkeit auf. Verbieten Sie unseren Kindern nicht die Teilnahme an der Olympiade in Rio.“Die Familie des russischen Spitzenschwimmers Wladimir Morosow wandte sich in einem offenen Brief an das Internationale Olympische Komitee (IOC). „Ein paar Tage vor dem Beginn der Spiele verschließt jemand die Tür vor Ihrem Kind, raubt ihm den Traum seines Lebens“, heißt es weiter.
In Moskau herrschte vor der Sitzung des IOC-Exekutivkomitees eine Stimmung wie vor einer Hinrichtung. Anfang vergangener Woche veröffentlichte die Welt-Anti-Doping-Agentur WADA einen neuen Bericht über massives, staatlich organisiertes Doping in Russland. Am Donnerstag lehnte der Internationale Sportgerichtshof in Lausanne eine Sammelklage der disqualifizierten russischen Leichtathleten gegen ihren Ausschluss ab. Am Sonntag nahm das IOC-Exekutivkomitee, wie berichtet, von einem Olympia-Bann Russlands für Rio Abstand. Aufatmen war angesagt. Stefan Scholl berichtet für die SN aus Moskau
Außer den Athleten bangten Trainer, Politiker und Fernsehmoderatoren. Denn Sport bedeutet in Russland mehr als nur Wettkampf und Spaß. Sport ist Teil der neuen staatlichen Nationalidee vom „Siegervolk“, wie Präsident Wladimir Putin seine Russen nennt. Der Präsident, der sich im Alter von 63 Jahren als Judokämpfer und Eishockey-Torjäger abbilden lässt, feierte den – inzwischen von Doping umwitterten – Gesamtsieg der russischen Olympiamannschaft bei den Heimspielen im Winter 2014 in Sotschi mit denselben Worten wie später den Wiederanschluss der Krim: „Wir haben es verdient.“
Bei der Universiade in Kasan 2013 schickte Russland im Gegensatz zur Konkurrenz statt Studenten Top- athleten an den Start und triumphierte mit 155 Goldmedaillen vor China mit 24. Bei der Moskauer Leichtathletik-WM im selben Jahr gewann man ebenfalls im Medaillenspiegel – auch dieser Sieg steht im begründeten Dopingverdacht.
Moskauer Insider bezeichnen Doping als unverzichtbar, um international konkurrenzfähig zu bleiben. Nur eine Minderheit äußert sich kritisch, wie der Publizist Maxim Schewtschenko, der klagt: „Der Sport muss aufhören, ein Teil der patriotischen Propagandamaschine des Staates zu sein.“
Russland betrachtet sich als Hochleistungssportnation. Dabei sind die Russen eigentlich unsportlich. Nach einer Umfrage des staatlichen Meinungsforschungsinstituts WZIOM versichern zwar 52 Prozent aller Russen, sie betrieben Sport, allerdings nur 13 Prozent regelmäßig. In Deutschland sind 49 Prozent mindestens ein Mal wöchentlich sportlich aktiv, im EUDurchschnitt sind es 40 Prozent. Dabei neigen Russlands staatliche Statistiken noch zur Beschönigung.
Beim Moskau-Marathon kamen vergangenes Jahr knapp 5600 Läufer ins Ziel, beim Berlin-Marathon waren es fast 37.000. Lauftreffs oder Amateurfußballteams sind vor allem in der russischen Provinz Exoten. Großstadt-Schickis beiden Geschlechts schwitzen zwar gerne in Fitnesscentern, einmal verheiratet, konsumiert die Masse der Russen Sport aber lieber passiv vor dem Fernsehen. Der russische „PapaBauch“ist sprichwörtlich.
Dafür betreiben schon Vorschulkinder Leistungssport. Dascha aus der Moskauer Vorstadt Odinzowo hat ihre erste Karriere bereits hinter sich. Im Alter von vier Jahren begann sie mit dem Eiskunstlauf im örtlichen Eissportzentrum. Schon im zweiten Trainingsjahr wurde das Pensum auf sechs Einheiten und elf Stunden pro Woche erhöht. „Dabei hatten wir noch Glück“, sagt ihre Mutter Marina. „Die Eltern aus der Parallelgruppe klagten, sie hätten auch noch dafür zahlen müssen.“Der Einzelunterricht, den Trainer in höheren Jahrgängen verordnen, soll monatlich umgerechnet gut 400 Euro kosten. Das ist immerhin fast ein halbes Moskauer Monatsdurchschnittsgehalt. Eltern, die ihre Kinder zum Turmspringen, Skilanglauf oder zum Basketball bringen, kommen meist ohne Lehrgeld davon. Aber gerade in kleine Eisflöhe werden in der Hoffnung, dass sie einmal Olympiagold holen, oft ganze Familienbudgets gesteckt.
Schließlich ist der Leistungssport einer der ganz wenigen Korridore geworden, um in Putins Land ein Jetset-Leben zu führen. Olympiasieger werden reihenweise in die Staatsduma gewählt, Eistanzprinzessin Tatjana Nawka hat Kremlsprecher Dmitrij Peskow geheiratet, die mehrfach mit olympischem Gold ausgezeichnete Sportgymnastin Alina Kabajewa soll nach Gerüchten sogar mit Putin selbst liiert sein.
Die kleine Dascha hatte im Herbst gelernt, sauber rückwärts zu skaten, aber die täglichen Tanzstunden auf dem Eis verdrossen sie zusehends. „Nächstes Jahr wären die ersten Sprünge dran gewesen“, erzählt ihre Mutter. Es sind Sprünge, die im Westen erst ab dem Alter von neun Jahren erlaubt sind. Dascha ließ es bleiben. „Ihre Knie waren mir zu schade“, sagt die Mama.