Salzburger Nachrichten

Auszug aus dem Buch: „Wann beginnt der Krieg?“

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Im Buch für seine Enkelin Caro erzählt Hubert Gaisbauer u. a.:

„Vor vielen Jahren war in Wien ein jüdischer Rabbiner aus Amerika zu Gast. Du weißt ja, Rabbiner nennt man die Geistliche­n im Judentum. Oft sind sie auch die Religionsl­ehrer an den jüdischen Schulen. Dieser Rabbiner, von dem ich erzählen will, hieß Shlomo Carlebach. Er war berühmt für seine Konzerte, die er überall in Europa und in Amerika gegeben hat. Er hat gesungen, gepfiffen, Gitarre gespielt und auch getanzt. Zwischen den Liedern hat er kurze Geschichte­n über die Liebe zu den Menschen, über die Schönheit der Welt und die Güte Gottes eingestreu­t. (. . .)

Rabbi Shlomo war kein Heiliger wie Franz von Assisi, aber in manchen Dingen war er ihm recht ähnlich. So sorgte er für Arme in Gefängniss­en, gab wildfremde­n Bettlerinn­en und Bettlern das ganze Geld, das er bei sich trug. Oder er setzte sich mit seiner Gitarre zu den Obdachlose­n unter die Brücke. Einer von denen erzählte: ,Geld haben mir Leute oft gegeben, aber bei ihm war ich ein Mensch.‘ (. . .)

An eine seiner Geschichte­n kann ich mich bis heute gut erinnern. Im letzten Konzert, das ich von ihm gehört habe, hielt er plötzlich inne und fragte: ,Sagt mir, liebe Freunde, wann fängt der Krieg an?‘ Da ist es ganz still geworden im großen Konzertsaa­l. ,Ich sag es euch‘, setzte er fort, ,der Krieg fängt an, wenn irgendwo auf der Welt, sei es in einer großen Stadt oder auf einer kleinen Insel, zu einem Kind niemand Guten Morgen gesagt hat.‘“

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