Wenn Kinder heiraten müssen
Experten warnen, dass es immer mehr Kinderehen in Österreich gibt. Grund dafür soll der Flüchtlingsstrom aus Ländern sein, in denen oft nicht der Liebe wegen geheiratet wird.
WIEN. Einer aufmerksamen Flüchtlingsberaterin ist es zu verdanken, dass Leyla vielleicht noch einen Teil ihrer Kindheit retten kann. Die 13Jährige heißt eigentlich anders, doch ihr Fall ist real: Für ein Beratungsgespräch gehen Leyla und ihre Mutter zur steirischen Caritas. Sie sind syrische Flüchtlinge mit anerkanntem Asylstatus. Leyla trägt ein Kind auf ihrem Arm. Im Laufe des Gesprächs stellt sich heraus, dass sie die Mutter des Kindes ist. Der Vater ist ihr 25-jähriger „Ehemann“.
Die Caritas schaltet das Jugendamt ein, die 13-jährige Leyla wird in ein Wohnheim für Jugendliche gebracht. Bis dahin war keiner Behörde aufgefallen, dass es sich um einen Fall von Kinderehe handelt. „Wir brauchen eine höhere Sensibilität für das Thema Zwangsehe von Minderjährigen“, sagt Christina Kraker-Kölbl, Leiterin der CaritasFrauenberatungsstelle in Graz. Denn damit werde man in Zukunft öfter zu tun haben.
In Deutschland ist derzeit eine Diskussion im Gange, wie mit Kinderehen umzugehen ist. Der Flüchtlingsstrom hat das bisher eher selten wahrgenommene Problem verstärkt. Da es in manchen Herkunftsländern der Asylsuchenden nicht selten ist, dass Minderjährige – meist Mädchen – verheiratet werden, ist man auch in den Aufnahmeländern zusehends mit dem Thema konfrontiert. In den wenigen Frauenberatungsstellen, die es in Österreich gibt, wird noch von Einzelfällen gesprochen. Tendenz steigend, wie Meltem Weiland vom Verein Orient Express bestätigt. Der Verein hilft seit 2004 Frauen, die sich aus Zwangsehen befreien oder vor Zwangsheiraten flüchten wollen. Vier Beraterinnen stehen zur Verfügung. Sie sprechen Türkisch, Arabisch, Polnisch, Englisch und Deutsch. Der Begriff „Kinderehe“ist Weiland viel zu verniedlichend: „Juristisch geht es um Zwangsheirat von Minderjährigen.“In Österreich muss eine Person für eine Eheschließung „ehemündig“sein. Das sind Personen, die das 18. Lebensjahr vollendet haben. In Ausnahmefällen kann man ab dem 16. Geburtstag vor Gericht für ehemündig erklärt werden.
Die meisten Fälle der sogenannten Kinderehen betreffen Mädchen, die bereits in einem anderen Land verheiratet worden sind. Kinderehen widersprechen den österreichischen Grundwerten und werden nicht anerkannt, wird im Justizministerium betont.
Wird eine Zwangsehe in Österreich geschlossen, gilt das als Straftat. Wurde sie bereits im Ausland geschlossen, wird sie nicht verfolgt. Außer: Die Zwangsehe mit einem Kind wurde bereits vollzogen. Dann ist der Straftatbestand des Geschlechtsverkehrs mit Minderjährigen erfüllt. Das kann auch noch verfolgt werden, wenn das Mädchen mittlerweile volljährig ist.
Im Jahr 2015 wurden vom Orient Express insgesamt 107 Klientinnen, die von Zwangsehe betroffen oder bedroht waren, betreut. 28 waren zwischen 15 und 19 Jahre alt, 69 zwischen 20 und 24 Jahre. Hauptherkunftsländer der Frauen: die Türkei (27), Afghanistan (14), Syrien (8) und Ägypten (8). „In diesen Ländern gibt es oft eine andere Vorstellung von Beziehungen“, sagt Weiland. Ökonomische Aspekte und die Familienehre seien wichtiger als die Liebe. „Die Brauteltern bekommen häufig das Brautgeld. Sie nennen es Tradition. Wir nennen es Kaufpreis.“
Auf ein bestimmtes Herkunftsland oder eine Religion will Weiland das Thema nicht reduzieren. „Wir beraten Muslima aus Afghanistan, Hinduistinnen aus Indien, Christinnen aus Ägypten.“
Frauen, die mit einer Zwangsverheiratung nicht leben könnten, müssten einen schwierigen Schritt machen. „Der Kontakt zur Familie wird abgebrochen oder sie werden verstoßen. Damit ist das soziale Umfeld plötzlich weg.“Gerade Fälle von zwangsverheirateten Minderjährigen bleiben deshalb oft im Verborgenen. Nicht selten werden die Mädchen oder jungen Frauen auch ins Ausland verschleppt, damit die Angehörigen der Strafverfolgung entgehen. „Die Eltern wissen also, dass sie etwas Verbotenes machen. Aber die Tradition in diesen patriarchalen Systemen ist oft stärker.“
Weiland und ihre Mitarbeiter arbeiten am Limit. „Wir müssen mittlerweile Frauen wegschicken, weil wir keine Ressourcen mehr haben.“Weil das Problem mit dem Flüchtlingsstrom zunimmt, müssten dringend mehr Anlaufstellen für zwangsverheiratete Minderjährige geschaffen werden. Auch, um eine Gruppe zu erreichen, über die noch wenig bekannt ist: zwangsverheiratete Burschen.