Warten auf den Hering
Rügen. Nach dem Sommerrummel kehrt im Herbst wieder Beschaulichkeit auf Deutschlands größter Insel ein.
Schön langsam ebbt auch auf Rügen der sommerliche Rummel ab, Mitte September ist die Hochsaison vorbei. Die Hotels verräumen die „Ausgebucht“Taferln und vermieten ihre Zimmer wieder zu zivilen Preisen. Und wenn nicht mehr so viele Besucher auf ihr herumhüpfen, hebt sich Deutschlands größte Insel buchstäblich „erleichtert“– und gewiss ein paar Millimeter höher – aus dem Meer. Gebadet kann noch eine ganze Weile werden. Wobei die Ostsee bekanntlich auch im Hochsommer keine karibischen Werte erreicht: Selten klettert das Thermometer über 18 Grad Celsius. Aber am Ufer und in den flachen Lagunen, den „Bodden“, ist die Wassertemperatur etwas höher und bis in den Oktober hinein akzeptabel. Nur vor den nun aufkommenden Herbststürmen muss man sich schützen. Aber dafür gibt es ja die allgegenwärtigen Strandkörbe, die erst Ende Oktober eingemottet werden. Als Vater der Strandkörbe gilt der HofKorbmachermeister Wilhelm Bartelmann aus dem nahen Rostock. Seine Ende des 19. Jahrhunderts gemachte Erfindung schlug ein, und heute ist kein Nord- oder Ostseebad ohne dieses Ferienmöbel vorstellbar. Hobbypsychologen erklären den Erfolg der – von den Badegästen oft noch mit Sandwällen „befestigten“– Strandburgen mit der angeborenen deutschen Abgrenzungsmentalität. Demnach stellen die Strandkörbe das maritime Pendant zum eingezäunten Schrebergarten im Binnenland dar.
Rügens bekannteste Sehenswürdigkeit sind zweifellos die Kreidefelsen, die vor genau zwei Jahrhunderten auch schon Caspar David Friedrich begeisterten. Auf dessen berühmtestem Ölgemälde rahmen zwei Buchen ein bizarr erodiertes Steilufer herzförmig ein, ein Verweis auf die Hochzeitsreise, die der Künstler mit seiner Angetrauten hierher unternahm. Aber die Flitterwöchner stehen seltsam weit voneinander an den seitlichen Bildrändern. Und wer ist der Fremde zwischen ihnen?
Sollte der geheimnisvolle Dritte nach Bernstein suchen, liegt er falsch. Wohl gibt es das „Gold der Ostsee“auch auf Rügen, aber nicht oben am Steilabfall, sondern am Fuß der Wand, wo eine schwere See die fossilen Harzklumpen von Zeit zu Zeit an die Küste wirft. Doch durch die Verwitterungskruste der meisten Stücke erkennen Laien Rohbernstein kaum. Man verlege die Schatzsuche daher besser in die zahlreichen Shops der Insel, die die „Steine“zu hübschem Schmuck verarbeitet anbieten.
Bedauerlicherweise ist es verboten, die Kreidefelsen küstennah entlangzuwandern. Immer wieder stürzen Teile des brüchigen Materials ab, sodass die Holztreppen hinunter zum Meer seit Jahren gesperrt sind. Also bleibt dem Besucher nur der Blick von oben – und von den Ausflugsschiffen, die im vorgeschriebenen Respektabstand von Sassnitz zum Kap Arkona tuckern. Der Königsstuhl, die mit 118 Metern höchste Erhebung die Steilküste, ist am bequemsten mit dem Pendelbus, der vom Großparkplatz Hagen startet, zu erreichen.
Rund um den Königsstuhl erstreckt sich der Jasmund-Nationalpark, Deutschlands kleinster übrigens. Er wurde erst knapp vor der Wende mit einer ihrer letzten Verfügungen von der DDR-Regierung eingerichtet. Wer direkt auf dem Königsstuhl steht, der definitiv keine Sitzgelegenheit ist, sieht man von ihm relativ wenig. Das berühmte Postkartenmotiv öffnet sich erst weiter südlich. Das wusste schon die Queen im 19. Jahrhundert und bewunderte die in üppiges Grün eingebettete bleiche Kreideküste von der Viktoriasicht aus.
Deutlich stimmungsvoller als im Shuttlebus nähern Besucher sich dem Königsstuhl per pedes auf dem Hochuferweg. Der Pfad führt – immer wieder mit schönen Durchblicken zur Ostsee – durch UNESCO-gelistete Rotbuchenwälder, deren Laub im Herbst in allen erdenklichen Gelb-, Rotund Brauntönen leuchtet. Etwas abseits, im Hinterland der sogenannten Stubenkammer, was mit dem deutschen Wort Stube nichts zu tun hat, aber aus dem Slawischen kommt – von „stopin“, der Stufe, und „kamen“, dem Fels –, lädt der idyllische Herthasee zur Rast ein.
Nicht minder reizvoll ist die Insel im Frühjahr. Allein ihr Anblick zur Rapsblüte bezaubert, und wenn die Heringschwärme zum Laichen kommen, stehen die Angler in höchster Erregung. Zu Hunderten stehen sie dann am Rügendamm und haben kein Auge für die Schönheit von Stralsund, Rügens „Bodenstation“auf dem Festland. Besuchen die Petrijünger die Hansestadt dennoch, dann nicht wegen der großartigen Backsteindome. Sondern um am Stammtisch Anglerlatein zu „snacken“, was auf „Plattdüütsch“plaudern bedeutet.
Zur Bedeutung des Herings für die Insel passt gut die Geschichte vom Pastor Kosegarten. In der Saison brachte er die Einheimischen nur mit dem Versprechen in die Kirche, die Messe sofort abzubrechen, wenn Fische gesichtet würden. Und so soll er tatsächlich einmal den Gottesdienst ziemlich abrupt beendet haben: statt mit einem „Amen“mit „De Hiering kömmt!“.