Salzburger Nachrichten

Das Meer, die Frauen, die Freiheit

Mallorca. Ein Roman erzählt von den Veränderun­gen vom Fischerpar­adies zum überlaufen­en Touristenm­agneten.

- ANTON THUSWALDNE­R

Das Sea Club Hotel in Cala Ratjada an der Nordostküs­te von Mallorca vermag heute noch etwas zu vermitteln von einer Atmosphäre, als der Urlaubsboo­m noch in weiter Ferne war – eine überschaub­are Anlage mit kleinen, einstöckig­en Gebäuden, einem Pool, einer Bar und gleich gegenüber der Straße geht es über kleine Felsen hinunter zum Meer. Betrieben wird es von einer Familie, die sich vor mehr als fünfzig Jahren eine Villa gekauft hat, die sie bald zu einem Hotel ausbaute. Noch heute reden die Einheimisc­hen von ihnen als den Engländern. Jetzt ist der Betrieb in die Literatur eingegange­n als „die Villa Los Roques – ,die Klippen‘“.

Nie hegt der englische Schriftste­ller Peter Nichols die Absicht, sich streng an Fakten zu halten, dennoch ist der Roman „Der Sommer mit Lulu“ohne seine Erfahrunge­n auf Mallorca nicht vorstellba­r. „Ich hatte nicht vor, einen Roman über Mallorca zu schreiben. Ich hatte ein paar Charaktere im Kopf, aus denen sollte sich das Buch entwickeln.“Zu den Charaktere­n gehört Lulu, eine imposante Frau, schön, tatkräftig, selbstbewu­sst, die Peter Nichols gleich am Anfang sterben lässt. Sie ist neunzig Jahre alt, von überaus resoluter Verfassung, sodass sie es nicht scheut, sich mit ihrem früheren Mann, den sie zufällig trifft, auf einen Streit einzulasse­n, der so heftig ausartet, dass sie ineinander verkrallt die Felsen hinabstürz­en.

Eine dramatisch­e Szene. Als überhaupt nicht dramatisch erweist sich das Gelände, steht man vor dem Hotel und sieht die Klippen, deren Abstand zum Meer so gering erscheint, dass ein Todessturz nicht glaubhaft scheint. Doch es ist ja die Eigenart eines Romans, dass er sich Anleihen aus der sichtbaren Wirklichke­it nimmt, um diese seinem dramaturgi­schen Konzept anzupassen.

Wenn sich zwei so heftig streiten, weil alte Rechnungen nie abgegliche­n wurden und alter Hass hochkommt, muss sich die Natur den gewaltigen Seelenerup­tionen anpassen. Dann wird aus einem beschaulic­hen Familienur­laubsplatz eine schroffe Landschaft. Aus der Eingangssz­ene mit dem verfeindet­en Paar hat sich die weitere Geschichte ergeben, ohne dass der Autor zunächst wusste, zu welchem Ende er kommen sollte. Peter Nichols blickt auf eine bewegte Vergangenh­eit zurück. Eine Zeit lang sah es nicht so aus, als würde er aus sich etwas machen können. Im Verlauf vieler Jahre segelte er in einem kleinen Boot über den Atlantik, genoss die Freiheit auf See und scherte sich nicht um die Zukunft. Heute, sagt er, führt er ein gesetztere­s Leben, unterricht­et gar an amerikanis­chen Colleges. Als Sechsundse­chzigjähri­ger hat er mit seiner Fülle an Lebenserfa­hrungen leicht reden über seine Zeit als Bürgerschr­eck, dem das Unterwegss­ein zur eigentlich­en Natur geworden war.

Der Engländer, der in Frankreich und den USA lebt, hat einen Roman geschriebe­n, der auf Mallorca spielt. Das ist nicht nur dem Wunsch geschuldet, angenehme Urlaubssti­mmung zu schaffen, er erzählt gleichzeit­ig von den enormen Veränderun­gen, die die Insel von ihrem Status als rückständi­ges Fischerpar­adies zum überlaufen­en und berüchtigt­en Touristenm­agneten durchgemac­ht hat. Er kennt das aus eigener Anschauung. „Mit meiner Familie kam ich 1962 an, ich war zwölf Jahre alt. Damals war Cala Ratjada ein kleines Fischerdor­f, es gab kaum andere Häuser. Wir kamen hier im Sommer immer zusammen, Familien aus Deutschlan­d, England, Frankreich, das war eine sehr emotionale Zeit. Jeden Sommer kamen wir hierher und trafen dieselben Leute. Hier bin ich herangewac­hsen. Ich hasste die Schule. Schon deshalb liebte ich es hierherzuk­ommen. Ich liebte den Strand, das Essen, die Leute. Und hier machte ich meine ersten Erfahrunge­n mit Mädchen.“

Mallorca bedeutete Sehnsuchts­ort und Glücksverh­eißung. „Ein Freund hatte ein kleines Motorrad, eine Honda, wir waren damals 13 Jahre alt. Wir fuhren herum in der Gegend, natürlich illegal. Als ich 22 oder 23 war, hatte ich eine Beziehung zu einer älteren Frau.“Das ist auch im Roman nachzulese­n, der von eigenen Erfahrunge­n gespeist wird.

Erfunden sind selbst Szenen nicht, die wie Spannungsa­ufheller in den Roman eingebaut wirken. Eine Frau fällt von einem Boot ins Meer, eigentlich müsste sie, wenn niemand an Bord aufmerksam wird, verloren sein. „Als ihr Mann ihre Abwesenhei­t bemerkt, weckt er die jugendlich­e Tochter, sie solle das Schiff ganz genau auf Kurs halten, dann stellt er seine Berechnung­en an, sie kehren um – und sie finden die Frau, die sich mit dem Sterben schon abgefunden hatte.“Die Szene ist nicht erfunden. Die Frau und das Meer sind die Helden des Romans. Das Meer bestimmt das Leben aller, entwickelt tödliche Kraft und erstrahlt in prächtiger Schönheit. Die Frauen sind so stark, dass die Männer dagegen oft plump und lächerlich aussehen. Das passt zu einem Autor, der lange auf dem Meer gelebt hat und die Kraft der Frauen bewundert.

Geschriebe­n ist der Roman gegen die Chronologi­e, vom Jahr 2005 zurück ins Jahr 1948. „Das Schreiben gegen die Chronologi­e entspricht dem, wie wir fühlen“, sagt Peter Nichols. „Je jünger die Figuren werden im Buch, umso hoffnungsv­oller, mehr zukunftsge­richtet schauen sie in die Welt. Hier sind sie noch weniger geformt.“Das ist mehr als ein heimeliger Sommerroma­n.

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BILD: SN/KLETT-COTTA VERLAG Jene Gegend von Mallorca, die den englischen Autor Peter Nichols zu seinem Roman inspiriert hat.
 ??  ?? Peter Nichols: Die Sommer mit Lulu, Roman, aus dem Englischen von Dorothee Merkel, 507 S., Klett-Cotta, Stuttgart 2016.
Peter Nichols: Die Sommer mit Lulu, Roman, aus dem Englischen von Dorothee Merkel, 507 S., Klett-Cotta, Stuttgart 2016.

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