Das Meer, die Frauen, die Freiheit
Mallorca. Ein Roman erzählt von den Veränderungen vom Fischerparadies zum überlaufenen Touristenmagneten.
Das Sea Club Hotel in Cala Ratjada an der Nordostküste von Mallorca vermag heute noch etwas zu vermitteln von einer Atmosphäre, als der Urlaubsboom noch in weiter Ferne war – eine überschaubare Anlage mit kleinen, einstöckigen Gebäuden, einem Pool, einer Bar und gleich gegenüber der Straße geht es über kleine Felsen hinunter zum Meer. Betrieben wird es von einer Familie, die sich vor mehr als fünfzig Jahren eine Villa gekauft hat, die sie bald zu einem Hotel ausbaute. Noch heute reden die Einheimischen von ihnen als den Engländern. Jetzt ist der Betrieb in die Literatur eingegangen als „die Villa Los Roques – ,die Klippen‘“.
Nie hegt der englische Schriftsteller Peter Nichols die Absicht, sich streng an Fakten zu halten, dennoch ist der Roman „Der Sommer mit Lulu“ohne seine Erfahrungen auf Mallorca nicht vorstellbar. „Ich hatte nicht vor, einen Roman über Mallorca zu schreiben. Ich hatte ein paar Charaktere im Kopf, aus denen sollte sich das Buch entwickeln.“Zu den Charakteren gehört Lulu, eine imposante Frau, schön, tatkräftig, selbstbewusst, die Peter Nichols gleich am Anfang sterben lässt. Sie ist neunzig Jahre alt, von überaus resoluter Verfassung, sodass sie es nicht scheut, sich mit ihrem früheren Mann, den sie zufällig trifft, auf einen Streit einzulassen, der so heftig ausartet, dass sie ineinander verkrallt die Felsen hinabstürzen.
Eine dramatische Szene. Als überhaupt nicht dramatisch erweist sich das Gelände, steht man vor dem Hotel und sieht die Klippen, deren Abstand zum Meer so gering erscheint, dass ein Todessturz nicht glaubhaft scheint. Doch es ist ja die Eigenart eines Romans, dass er sich Anleihen aus der sichtbaren Wirklichkeit nimmt, um diese seinem dramaturgischen Konzept anzupassen.
Wenn sich zwei so heftig streiten, weil alte Rechnungen nie abgeglichen wurden und alter Hass hochkommt, muss sich die Natur den gewaltigen Seeleneruptionen anpassen. Dann wird aus einem beschaulichen Familienurlaubsplatz eine schroffe Landschaft. Aus der Eingangsszene mit dem verfeindeten Paar hat sich die weitere Geschichte ergeben, ohne dass der Autor zunächst wusste, zu welchem Ende er kommen sollte. Peter Nichols blickt auf eine bewegte Vergangenheit zurück. Eine Zeit lang sah es nicht so aus, als würde er aus sich etwas machen können. Im Verlauf vieler Jahre segelte er in einem kleinen Boot über den Atlantik, genoss die Freiheit auf See und scherte sich nicht um die Zukunft. Heute, sagt er, führt er ein gesetzteres Leben, unterrichtet gar an amerikanischen Colleges. Als Sechsundsechzigjähriger hat er mit seiner Fülle an Lebenserfahrungen leicht reden über seine Zeit als Bürgerschreck, dem das Unterwegssein zur eigentlichen Natur geworden war.
Der Engländer, der in Frankreich und den USA lebt, hat einen Roman geschrieben, der auf Mallorca spielt. Das ist nicht nur dem Wunsch geschuldet, angenehme Urlaubsstimmung zu schaffen, er erzählt gleichzeitig von den enormen Veränderungen, die die Insel von ihrem Status als rückständiges Fischerparadies zum überlaufenen und berüchtigten Touristenmagneten durchgemacht hat. Er kennt das aus eigener Anschauung. „Mit meiner Familie kam ich 1962 an, ich war zwölf Jahre alt. Damals war Cala Ratjada ein kleines Fischerdorf, es gab kaum andere Häuser. Wir kamen hier im Sommer immer zusammen, Familien aus Deutschland, England, Frankreich, das war eine sehr emotionale Zeit. Jeden Sommer kamen wir hierher und trafen dieselben Leute. Hier bin ich herangewachsen. Ich hasste die Schule. Schon deshalb liebte ich es hierherzukommen. Ich liebte den Strand, das Essen, die Leute. Und hier machte ich meine ersten Erfahrungen mit Mädchen.“
Mallorca bedeutete Sehnsuchtsort und Glücksverheißung. „Ein Freund hatte ein kleines Motorrad, eine Honda, wir waren damals 13 Jahre alt. Wir fuhren herum in der Gegend, natürlich illegal. Als ich 22 oder 23 war, hatte ich eine Beziehung zu einer älteren Frau.“Das ist auch im Roman nachzulesen, der von eigenen Erfahrungen gespeist wird.
Erfunden sind selbst Szenen nicht, die wie Spannungsaufheller in den Roman eingebaut wirken. Eine Frau fällt von einem Boot ins Meer, eigentlich müsste sie, wenn niemand an Bord aufmerksam wird, verloren sein. „Als ihr Mann ihre Abwesenheit bemerkt, weckt er die jugendliche Tochter, sie solle das Schiff ganz genau auf Kurs halten, dann stellt er seine Berechnungen an, sie kehren um – und sie finden die Frau, die sich mit dem Sterben schon abgefunden hatte.“Die Szene ist nicht erfunden. Die Frau und das Meer sind die Helden des Romans. Das Meer bestimmt das Leben aller, entwickelt tödliche Kraft und erstrahlt in prächtiger Schönheit. Die Frauen sind so stark, dass die Männer dagegen oft plump und lächerlich aussehen. Das passt zu einem Autor, der lange auf dem Meer gelebt hat und die Kraft der Frauen bewundert.
Geschrieben ist der Roman gegen die Chronologie, vom Jahr 2005 zurück ins Jahr 1948. „Das Schreiben gegen die Chronologie entspricht dem, wie wir fühlen“, sagt Peter Nichols. „Je jünger die Figuren werden im Buch, umso hoffnungsvoller, mehr zukunftsgerichtet schauen sie in die Welt. Hier sind sie noch weniger geformt.“Das ist mehr als ein heimeliger Sommerroman.